Zwischenbilanz Merkel schleicht profillos ihrem Ende entgegen

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Angela Merkel, Gerhard Quelle: dpa/dpaweb

Ob Merkel in der Theorie oder Schröder in der Praxis den Reformbedarf übertrieben hatten, ob sie das dynamische Potenzial der Republik unterschätzten, ob das Land nach der Stagnation der neunziger Jahre – unbemerkt vom liberalen Mainstream – schon wieder konkurrenzfähig geworden war: Über all das hätte sich streiten lassen. Gerade mit Blick auf künftige Strategien. Doch die Kanzlerin wollte nicht streiten, sie wollte ihren neuen Kurs nicht an ihren früheren Forderungen messen. So blieb den Deutschen verborgen, wann und warum Angela Merkel aufhörte, das Land als "Sanierungsfall" zu betrachten.

Nur einmal, 2007, durchbrach Jürgen Rüttgers dieses Arrangement. Er wollte die "Lebenslügen der Reformpolitik" debattieren. Das zielte auf Merkel. Sie ließ es zu, dass Rüttgers sich in der Sache durchsetzte. Nur die Grundsatzdebatte mit Kanzlerin entfiel. Der begründungsfreie Kurswechsel ist zum Muster ihrer Politik geworden.

Hat Merkel die falschen Lehren gezogen?

Das gilt sogar in Fragen von Krieg und Frieden. 2002/03 profilierte sich die Oppositionsführerin gegen Schröders Anti-Irakkriegs-Kurs als Partnerin des amerikanischen Präsidenten George W. Bush. Doch als dessen Kriegsbegründung sich als Lüge erwies und auch die irakische Demokratie nicht recht vorankam, konnte sich Merkel kaum mehr daran erinnern, je mit den Kriegsbefürwortern sympathisiert zu haben. Erst die deutsche Enthaltung in der Libyen-Frage gab einen Hinweis, wie weit sich Merkel inzwischen von ihrem frühen Bellizismus entfernt hat. Selbst die "Einheit des Westens", die sie einst als unverbrüchliche Maxime deutscher Außenpolitik gegen Schröder ins Feld geführt hatte, war plötzlich so nachrangig wie die Unterstützung der libyschen Aufständischen gegen deren Unterdrücker.

Merkel, so scheint es heute, hat aus der Irak-Erfahrung die falschen Lehren gezogen. Sie hat Schröder auf der Welle des Pazifismus eine schon verlorene Bundestagswahl gewinnen sehen. Das hat sie empört und beeindruckt. Schröder hatte sich ungehemmt populistisch die Mehrheit gesichert. Aber er hatte gegen einen Krieg votiert, den er für unverantwortlich hielt – nachdem er zuvor deutsche Soldaten in das Kosovo und nach Afghanistan entsandt hatte. Seine Nachfolgerin musste bislang keine militärische Entscheidung dieser Tragweite treffen. Gerade nach der Libyen-Enthaltung wüsste man gerne, wo Merkel in der Frage humanitärer militärischer Interventionen heute steht.

Die Grundlinien der Kanzlerin verschwimmen

Auch das bleibt offen. So behält die Kanzlerin ein Maximum an Flexibilität. Sie ist nicht festgelegt. Ihre Grundlinien verschwimmen. Aber es gibt ja noch genügend Probleme, die sich auch mit nüchternem Pragmatismus bearbeiten lassen. So agiert sie seit einem Jahr in der Euro-Krise. Sie ist die mächtigste Spielerin, und doch laviert sie zwischen ihren Sanierungsforderungen an den Süden und dem unabweisbaren Rettungszwang. Und dann ist da noch der wachsende Unwille in der Bevölkerung und in der Koalition. Dass die Kanzlerin in dieser Lage Erklärungen liefert, mit denen sich die Öffentlichkeit einen Reim auf die Krise oder gar auf Merkels Strategie machen könnte, ist unwahrscheinlich.

Merkels Regieren wirkt unübersichtlich, manchmal beliebig. Wo Positionen, für die heute mit Verve geworben wird, plötzlich zugunsten anderer Positionen verschwinden, verliert Politik ihre Überzeugungskraft. Denn warum sollen sich die Bürger mit politischen Inhalten und Forderungen befassen, wenn diese schon im nächsten Moment bedeutungslos werden können?

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