Die Staats- und Regierungschefs der EU beraten über die Konsequenzen aus dem britischen Votum für einen Austritt aus der Europäischen Union. Der scheidende britische Premierminister David Cameron will über den Ausgang des Referendums informieren. Im Folgenden die Entwicklungen am Mittwoch im Überblick.
+++ Schottische Regierungschefin hofft auf EU-Verbleib +++
Die Gespräche über einen EU-Verbleib Schottlands nach dem Brexit werden aus Sicht von Regierungschefin Nicola Sturgeon nicht einfach. „Ich unterschätze die Herausforderungen, denen wir gegenüberstehen, nicht“, sagte Sturgeon am Mittwoch in Brüssel. Sie kam dort unter anderem mit EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) zusammen, um über die Folgen des britischen Brexit-Votums zu beraten. EU-Kommissionspräsident Juncker sagte dazu: „Schottland hat sich das Recht erworben, in Brüssel gehört zu werden.“
+++ Russischer Außerminister besorgt über Brexit-Folgen +++
Der russische Außenminister Sergej Lawrow ist „sehr besorgt“ über die Folgen des Brexit. Man beobachte genau, welche Auswirkungen er auf die Beziehung Russlands mit der EU und mit Großbritannien haben könnte, sagte Lawrow am Mittwoch nach einem Treffen mit dem französischen Außenminister Jean-Marc Ayrault in Paris.
+++ Die Ergebnisse des EU-Gipfels +++
Die EU-Chefs drängen Großbritannien gemeinsam, die erforderliche offizielle Erklärung des EU-Austritts möglichst bald abzugeben. Dem britischen Wunsch, die komplizierten Scheidungsverhandlungen schon vorher zu beginnen, treten die 27 einhellig entgegen. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hält das britische Votum für unumstößlich: „Ich sehe keinen Weg, das wieder umzukehren.“ EU-Parlamentspräsident Martin Schulz spricht jedoch davon, London im Zweifelsfall einen Rückzieher zu ermöglichen. Politisch hat die Trennung bereits begonnen: Erstmals tagen die Staats- und Regierungschefs ohne den britischen Premierminister.
+++ Finanzielle Folgen für die Eurozone +++
Ein britischer EU-Austritt dürfte nach Einschätzung der Europäischen Zentralbank (EZB) die Wirtschaft der Eurozone spürbar treffen: mit einem insgesamt 0,3 bis 0,5 Prozentpunkte geringeren Wachstum in den nächsten drei Jahren, wie EZB-Chef Mario Draghi auf dem Gipfel warnt. Merkel ist skeptisch: „Ich glaube, dass man heute nicht genau ermessen kann, wie sich die Dinge auswirken.“
Das sagen Ökonomen zum Brexit-Entscheid
„Wir müssen einen sanften Übergang in eine neue wirtschaftliche Beziehung sicherstellen. Der IWF unterstützt die Bank von England und die Europäische Zentralbank darin, für die nötige Liquidität des Bankensystems zu sorgen und Schwankungen nach der Abstimmung zu begrenzen.“
„Der Brexit ist für die deutsche Wirtschaft ein Schlag ins Kontor.“
„Die Briten werden die Ersten sein, die unter den wirtschaftlichen Folgen leiden werden.“
„Wir erwarten in den kommenden Monaten einen deutlichen Rückgang des Geschäfts mit den Briten. Neue deutsche Direktinvestitionen auf der Insel sind kaum zu erwarten.“
„Nach einem EU-Austritt sollte niemand Interesse daran haben, mit Zollschranken zwischen Großbritannien und dem Festland den internationalen Warenverkehr zu verteuern.“
„Es wird nicht lange dauern, bis unsere Maschinenexporte nach Großbritannien spürbar zurückgehen werden.“
„Weniger Wirtschaftswachstum in den EU-Staaten und ein schwächeres Exportgeschäft werden die Konsequenzen sein.“
„Die EU-Staats- und Regierungschefs müssen schnell die dringend erforderlichen Reformen für mehr Wettbewerbsfähigkeit und Fairness im EU-Binnenmarkt in Angriff nehmen.“
"Es kommt jetzt darauf an, ob wir eine saubere oder eine schmutzige Scheidung bekommen. Es geht vor allem darum, ob Großbritannien nach einem Verlassen der EU den Zugang zum EU-Binnenmarkt behält. Wichtig ist, dass die EU jetzt nicht die beleidigte Leberwurst spielt. Sie sollte ein starkes Interesse daran haben, mit den Briten in den kommenden zwei Jahren eine saubere Trennung zu vereinbaren. Das Land ist zweitwichtigster Handelspartner der EU, nach den USA und vor China. Die EU hat ein großes wirtschaftliches Interesse daran, Zölle im Warenhandel zu vermeiden und das Land im Binnenmarkt zu behalten.
Der Brexit stellt auch ein politischen Risiko für die EU dar. Denn das wird den Anti-EU-Parteien in vielen EU-Ländern Rückenwind geben. Die Regierungen werden noch weniger als bisher mehr Europa wagen, so dass die Probleme der Währungsunion weitgehend ungelöst bleiben. Was die EZB mehr denn je zwingt, die Probleme durch eine lockere Geldpolitik zu übertünchen.
Der Brexit schafft Unsicherheit und ist insofern schlecht für die deutsche Wirtschaft. Aber wir erwarten nicht, dass der Euro-Raum in die Rezession zurückfällt. Das gilt auch für Großbritannien und erst recht für den Fall, dass sich allmählich eine saubere Scheidung abzeichnet."
"Jetzt kommt eine große Phase der absoluten Unsicherheit. Denn etwas Vergleichbares hatten wir noch nicht. Unsicherheit ist schlecht für die Wirtschaft." Der Aufschwung in Großbritannien dürfte nun weitgehend zu Ende sein, in der Euro-Zone werde er sich abschwächen. Hersteller von Investitionsgütern wie Maschinen und Autos dürften die Folgen stärker spüren. "Deutschland ist also stärker betroffen als beispielsweise Spanien", sagte Schmieding.
"Die Entscheidung der britischen Wähler für den Brexit ist eine Niederlage der Vernunft", sagte er. "Die Politik muss jetzt alles tun, um den wirtschaftlichen Schaden zu begrenzen. Dazu gehört es, sicherzustellen, dass Großbritannien so weit wie möglich in den Binnenmarkt integriert bleibt." Es sei wichtig, die Verhandlungen darüber möglichst schnell zum Abschluss zu bringen, damit die Phase der Unsicherheit über die künftigen Wirtschaftsbeziehungen möglichst kurz bleibe.
"Die Finanzmärkte werden einige Tage brauchen, um den Schock zu verarbeiten. Die Politik muss jetzt versuchen, das Beste aus einer Entscheidung zu machen, die die EU schwächt. Das wird lange brauchen. Und so lange wird Unsicherheit das Geschehen prägen, zumal die Fliehkräfte in anderen EU-Ländern stärker zutage treten werden. Das Ergebnis kann auch die Nicht-Mainstream-Parteien in Spanien stärken, wo am Sonntag gewählt wird. Bis gestern hatte Europa ein Problem, jetzt ist erst mal Panik."
"Das Ergebnis des Referendums ist kein gutes Signal für Europa. Aber es ist vor allem kein gutes Signal für Großbritannien. Die politischen Strukturen der EU sind stark. Und anders als bei einem 'Grexit', also dem Ausscheiden eines Landes aus der Währungsunion, für das es keine rechtliche Grundlage gibt, ist die Prozedur für das Ausscheiden eines Landes aus der EU rechtlich klar geregelt. Die Folgen für den europäischen Integrationsprozess werden weniger gravierend sein, als jetzt oft vorschnell beschrieben. Auch wenn es schwierig wird: Die EU kann einen Austritt Großbritanniens verkraften.
Innerhalb Europas sollte der Fokus der nächsten Monate auf der Vertiefung des Euro-Raums liegen. Die Euro-Krise ist immer noch nicht ausgestanden. Die EZB hat die Grenze ihres Mandats erreicht. Nun müssen sich die Euro-Länder so schnell wie möglich auf einen Stabilisierungsplan einigen, der sowohl mehr Risikoteilung (vor allem schwierig für Deutschland) als auch mehr Souveränitätsteilung (vor allem schwierig für Frankreich) umfasst. Allerdings ist für einen solchen Plan kaum Zeit."
"Jetzt wird es turbulent an den Finanzmärkten. Das Pfund ist bereits auf einem 30-Jahres-Tief gegenüber dem Dollar. In absehbarerer Zeit sollten wir aber wieder eine Erholung sehen. Die Finanzmärkte fragen sich jetzt: Wie sieht das neue Verhältnis zwischen EU und Großbritannien aus? Die Briten könnten künftig Mitglied des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) werden, wie Norwegen. Ich gehe nicht davon aus, dass das Verhältnis EU-Großbritannien damit beendet ist. Die EU wird das Land nicht am langen Arm verhungern lassen.
Mit dem heutigen Tag ändert sich erst einmal gar nichts. Es wird jetzt Verhandlungen mit der EU geben. So lange bleibt GB Vollmitglied der EU, also die nächsten zwei Jahre. Ich gehe nicht davon aus, dass sich die wirtschaftliche Lage dramatisch verändern wird. Die Briten dürften es aber merken: Die dortigen Unternehmen dürften jetzt Investitionen überdenken. Aber ich denke nicht, dass das Land nun in eine Rezession fällt."
+++ Streit über Handelsabkommen mit Kanada +++
Zwischen Mitgliedstaaten und EU-Kommission gibt es Streit darüber, ob die nationalen Parlamente dem Handelsabkommen mit Kanada zwingend zustimmen müssen. Die Kommission sagt Nein, Deutschland, Österreich und andere sind gegenteiliger Ansicht. „Wir werden den Bundestag um Meinungsbildung bitten“, kündigte Merkel in Brüssel an. Juncker machte deutlich, dass er gegen eine freiwillige Beteiligung nichts hat.
+++ Ex-Verteidigungsminister Fox will Premier werden +++
Im Rennen um die Nachfolge von Premierminister David Cameron tritt auch der ehemalige Verteidigungsminister Liam Fox an. Das berichtet der Sender BBC.
+++ Juncker distanziert sich vom Brexit-Votum +++
EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker hat sich gegen Vorwürfe in einigen Medien gewehrt, er trage Mitverantwortung für das Brexit-Votum der Briten und solle deswegen einen Rücktritt erwägen. „Ich lasse mich von der Presse weder er- noch entmutigen“, sagte er zum Abschluss des EU-Gipfels am Mittwoch in Brüssel. Er lasse sich auch nicht „entmündigen“ oder „in Höhen oder Tiefen treiben“. Die Unterstellung, er sei mit Schuld am Nein der Briten zur EU, könne er nicht nachvollziehen. Er habe sich auf Bitten der verschiedenen Lager in Großbritannien nicht eingemischt und sei auch selbst davon ausgegangen, dass „Zurufe über den Zaun“ nicht angebracht gewesen wären.
+++ Hessen berät über Folgen für Finanzplatz Frankfurt +++
Vertreter von Hessens Landesregierung beraten am 11. Juli mit Bundesbank und Repräsentanten der Finanzbranche über die Folgen des britischen Brexit-Votums für den Handelsplatz Frankfurt, wie Ministerpräsident Volker Bouffier ankündigt.
+++ Grenzabkommen zwischen Briten und Franzosen soll bleiben +++
Das Brexit-Votum hat auf das Grenzabkommen zwischen Frankreich und Großbritannien nach den Worten des französischen Präsidenten Francois Hollande keine Auswirkungen, da es sich um eine bilaterale Vereinbarung handelt. Das La-Touquet-Abkommen von 2003 gestattet es britischen Beamten, Pässe in Frankreich zu kontrollieren und umgekehrt. Migranten auf dem Weg nach Großbritannien werden daher bereits am französischen Ufer des Ärmelkanals aufgehalten und sammeln sich in Calais.
+++ Cameron warnt vor wirtschaftlich schweren Zeiten +++
Der scheidende britische Regierungschef David Cameron warnt seine Landsleute vor wirtschaftlich schweren Zeiten. Das Land steuere auf eine kabbelige See zu, sagt er. Die Regierung müsse der Wirtschaft versichern, dass sich bis zum Ausscheiden Großbritanniens aus der EU nichts ändere.
+++ Merkel gegen neue EU-Verträge +++
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat es abgelehnt, angesichts des britischen Votums für einen Austritt aus der EU eine Reform der europäischen Verträge ins Auge zu fassen. „Diese Verträge sind eine sehr, sehr gute Grundlage“, sagte sie nach dem zweitägigen EU-Gipfel am Mittwoch in Brüssel mit Blick auf den Lissabon-Vertrag. „Wir würden wirkliche das Falsche tun, wenn wir wieder eine Vertragsdiskussion beginnen würden.“ Der Vertrag von Lissabon biete ein großes Maß an Flexibilität, um auf die aktuellen Herausforderungen zu reagieren, sagte Merkel. Auf die Frage, ob die EU mit mehr oder weniger Integration auf das Ausscheiden Großbritanniens antworten wolle, sagte sie: „Es geht nicht um mehr oder weniger, sondern um Resultate.“
Auch EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker forderte, die EU müsse sich nach dem Nein der Briten ohne komplizierte Änderungen ihrer Verträge reformieren. Es sei weder eine Vertragsänderung noch ein Konvent geplant, sagte er nach den Beratungen mit 27 EU-Chefs. Im zurückliegenden Jahrzehnt hatte ein Konvent die EU-Verfassung erarbeitet, die aber wegen gescheiterter Referenden in den Niederlanden und Frankreich letztlich scheiterte. Das EU-abtrünnige Großbritannien war bei dem „informellen Treffen“ nicht vertreten.
Brexit belastet deutsche Wirtschaft ab Jahresmitte
+++ Cameron kündigt Maßnahmen gegen Rassismus an +++
Der britische Premierminister David Cameron hat Maßnahmen gegen rassistische Übergriffe angekündigt. Seit dem Votum der Briten für einen Austritt aus der EU hatten sich Berichte über fremdenfeindliche Vorfälle gehäuft. „Wir werden alles tun, was wir können, um diese widerwärtigen Hassverbrechen aus unserem Land zu verbannen“, sagte Cameron am Mittwoch im Parlament in London. Die Regierung werde einen Aktionsplan vorlegen, um dem Problem zu begegnen. Auch Londons Bürgermeister Sadiq Khan hatte sich angesichts der Berichte über rassistische Übergriffe besorgt gezeigt. Er rief Scotland Yard dazu auf, besonders wachsam zu sein.
+++ Deutsche Börse kämpft für Fusion mit LSE +++
Die Deutsche Börse kämpft trotz Brexit für den Zusammenschluss mit der London Stock Exchange (LSE). "Nach der Entscheidung der britischen Bevölkerung, die EU zu verlassen, ist es nun wichtiger als zuvor, die finanzwirtschaftliche Verbindung zum Vereinigten Königreich stabil zu halten", sagt Aufsichtsratschef Joachim Faber.
+++ Brexit belastet deutsche Wirtschaft ab Jahresmitte +++
Das Brexit-Votum der Briten dürfte dem DIW zufolge auch die Wirtschaft in Deutschland belasten. "In der zweiten Jahreshälfte könnte die Konjunktur deutlich an Schwung verlieren, vor allem weil die Exporte nach Großbritannien merklich zurückgehen könnten", sagte DIW-Konjunkturchef Ferdinand Fichtner am Mittwoch. Im ablaufenden zweiten Quartal habe sich die Wirtschaft noch stabil entwickelt und sei wohl um 0,3 Prozent gewachsen - "aber das war vor der Entscheidung über den Brexit", betonte der Ökonom.
+++ Nicht nur die Rosinen herauspicken +++
Frankreichs Staatspräsident François Hollande hat den Briten klargemacht, dass sie sich nach dem Brexit-Votum in EU-Fragen nicht nur die Rosinen herauspicken werden können. Dies gelte insbesondere für die Freizügigkeit von Personen, sagte Hollande am Dienstag nach Gesprächen mit den weiteren Staats- und Regierungschefs der EU in Brüssel. Einwanderung und ein Zustrom von nicht-britischen EU-Bürgern in Großbritannien waren Schlüsselthemen bei dem Referendum, bei dem sich am vergangenen Donnerstag die Mehrheit der Briten für einen Ausstieg ihres Landes aus der Europäischen Union ausgesprochen hatte. Hollande sagte, Großbritannien werde nicht einfach Ausländer fernhalten können, während es all die anderen Vorteile des EU-Binnenmarktes behalten werde.
+++ Europa kann zerbrechen +++
Österreichs Außenminister Sebastian Kurz hat angesichts der Flüchtlingskrise vor einem Auseinanderbrechen Europas gewarnt. Kurz bezeichnete die Flüchtlingspolitik als „dramatischsten Fehler“ der EU. Das Thema habe die Menschen emotionalisiert und sei am Ende entscheidend für den Ausgang des Brexit-Referendums gewesen, sagte er den Zeitungen der Funke Mediengruppe (Mittwochsausgabe). Auch in Österreich erwarte man „mehr von Europa“, und das Thema Bewältigung der Flüchtlingsströme stehe „für die Bürger ganz oben auf der Agenda“. Viele Probleme seien in Europa nicht gelöst und die Bürger mit „Durchhalteparolen ruhiggestellt“ worden.
+++ Keine harte Haltung gegen Briten +++
Der frühere Präsident des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung, Hans-Werner Sinn, hat vor einer harten Haltung der EU gegenüber Großbritannien gewarnt. „Diejenigen, die den Briten die kalte Schulter zeigen und weitermachen wollen wie bisher, sind schlechte Politiker“, sagte der Ökonom der „Passauer Neuen Presse“ (Mittwoch). „Wir sollten versuchen, Großbritannien so wie Norwegen sehr eng an die EU anzubinden.“ Diejenigen, die auf einen schnellen Austritt drängten, wollten Europa im Eiltempo weiter „in die falsche Richtung entwickeln, nämlich zu einer Haftungsunion im Inneren und einer Festung nach außen, die sich gegenüber der Welt abschottet“, warnte Sinn. „Beides käme uns Deutsche teuer zu stehen.“