+++ Brexit-Nachrichtenüberblick +++ USA prüfen Brexit-Folgen für TTIP-Verhandlungen

Nach dem Brexit-Votum sind die Rufe nach einer raschen Trennung und einem Ende der Unsicherheit ungehört verhallt. Börsenkurse und der Pfundwert trudelten weiter abwärts. Im Folgenden die Entwicklungen am Montag.

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Was die Briten an der EU stört
Nationale IdentitätAls ehemalige Weltmacht ist Großbritanniens Politik noch immer auf Führung ausgelegt. London ist gewohnt, die Linie vorzugeben, statt sich mühsam auf die Suche nach Kompromissen zu begeben. „London denkt viel mehr global als europäisch“, sagt Katinka Barysch, Chefökonomin beim Centre for European Reform in London. Die Angst, von EU-Partnern aus dem Süden Europas noch tiefer in die ohnehin schon tiefe Krise gezogen zu werden, schürt zusätzliche Aversionen. Quelle: dpa
Finanztransaktionssteuer und Co.Die Londoner City ist trotz massiven Schrumpfkurses noch immer die Lebensader der britischen Wirtschaft. Großbritannien fühlt sich von Regulierungen, die in Brüssel ersonnen wurden, aber die City treffen, regelrecht bedroht. „Regulierungen etwa für Hedgefonds oder die Finanztransaktionssteuer treffen London viel mehr als jeden anderen in Europa“, sagt Barysch. Allerdings hatte die Londoner City in der Finanzkrise auch mehr Schaden angerichtet als andere Finanzplätze. Quelle: dpa
Regulierungen des ArbeitsmarktsGroßbritannien ist eines der am meisten deregulierten Länder Europas. Strenge Auflagen aus Brüssel, etwa bei Arbeitszeitvorgaben, stoßen auf wenig Verständnis auf der Insel. „Lasst uns so hart arbeiten wie wir wollen“, heißt es aus konservativen Kreisen. Quelle: dapd
EU-BürokratieDie Euroskeptiker unter den Briten halten die Bürokratie in Brüssel für ein wesentliches Wachstumshemmnis. Anti-Europäer in London glauben, dass Großbritannien bilaterale Handelsabkommen mit aufstrebenden Handelspartnern in aller Welt viel schneller aushandeln könne als der Block der 27. Die Euroskeptiker fordern auch, dass der Sitz des Europaparlaments in Straßburg (hier im Bild) abgeschafft wird und die Abgeordneten nur noch in Brüssel tagen. Quelle: dpa
MedienDie britische Presse ist fast durchgehend europafeindlich und prägt das Bild der EU auf der Insel. Das hat auch politische Wirkung. „Ich muss meinen Kollegen in Brüssel dauernd sagen, sie sollen nicht den 'Daily Express' lesen“, zitiert die „Financial Times“ einen britischen Minister. Quelle: dpa

Nach dem Brexit-Votum wächst in der Europäischen Union der Druck auf Großbritannien, die Konsequenzen zu ziehen. Deutschland und die anderen fünf EU-Gründerstaaten fordern rasche Austrittsverhandlungen. Der britische Premier David Cameron hatte seinen Rücktritt bis Oktober angekündigt – die Verhandlungen solle erst sein Nachfolger führen. Die Reaktionen und Nachrichten vom Montag im Liveblog.

+++ Britische Regierung legt Verkauf von Bankanteilen auf Eis +++

Die britische Regierung hat nach der Brexit-Abstimmung Insidern zufolge Pläne für den milliardenschweren Verkauf von Anteilen an den Großbanken Royal Bank of Scotland und Lloyds auf Eis gelegt. Statt wie vorgesehen dieses Jahr werde man sich der Angelegenheit frühestens 2017 annehmen, war aus dem Umfeld des Finanzministeriums zu vernehmen. Grund seien die Marktturbulenzen und die wirtschaftliche Unsicherheit, die durch das Votum der Briten für einen Ausstieg aus der Europäischen Union ausgelöst worden seien. Es werde "eine ganze Weile dauern", bevor man die Konsequenzen für die Banken kenne und auch nur in Erwägung ziehen könne, mit dem Verkauf fortzufahren.

+++ USA prüfen Brexit-Folgen für TTIP-Verhandlungen +++

Die USA prüfen nach Angaben von Außenminister John Kerry derzeit die Auswirkungen des Brexit-Votums auf die Verhandlungen über das geplante Freihandelsabkommen TTIP und den Handel im Allgemeinen. Welche Folgen der Brexit für die US-Konjunktur habe, könne man erst wissen, wenn man sehe, wie die Verhandlungen zwischen Großbritannien und der EU liefen.

Wo die großen Brexit-Baustellen sind

+++ Brexit-Schock sorgt für erneute Dax-Talfahrt +++

Der Brexit-Schock sitzt tief an der Börse. Verunsicherte Anleger schickten den deutschen Aktienmarkt am Montag weiter auf Talfahrt. Der Dax fiel zeitweise auf den tiefsten Stand seit dem 25. Februar. Mit einem Abschlag von 3,02 Prozent auf 9268,66 Punkten geht der deutsche Leitindex aus dem Tag.

+++ Cameron: vorerst keine formalen Gespräche +++

Premierminister David Cameron will vorerst keine formalen Gespräche über ein Ausscheiden Großbritanniens aus der Europäischen Union einleiten, sagt er im britischen Unterhaus. Erneut äußert er sich enttäuscht, dass knapp 52 Prozent der Wähler am Donnerstag für den Brexit gestimmt hatten. Dies sei nicht das beste Ergebnis für Großbritannien, sagt Cameron. Der Wählerwille müsse respektiert und auf bestmögliche Weise umgesetzt werden. Doch werde Großbritannien in diesem Stadium noch nicht bei der EU die Trennung beantragen.

+++ EU-Staaten: Verhandlungen erst nach Aktivierung von Artikel 50 +++

Vertreter aller EU-Staaten außer Großbritannien sind sich nach Angaben aus Frankreich einig, dass die Londoner Regierung zunächst unter Berufung auf Artikel 50 des EU-Vertrages den Austritt aus dem Staatenbund beantragen muss. Vorher werde es keine Brexit-Verhandlungen geben.

+++ Renzi: Nach Briten-Votum keine Zeit verlieren +++

Europa sollte nach dem Brexit-Votum Großbritanniens nach Worten von Italiens Regierungschef Matteo Renzi keine Zeit verlieren. „Europa kann alles machen, außer jetzt eine einjährige Diskussion über die Prozeduren zu beginnen“, sagt Renzi im Senat in Rom. Ansonsten verliere man nicht nur die Botschaft des britischen Votums, sondern auch die eigentliche Idee Europas aus dem Blick. Die Entscheidung der Briten laste „wie ein Felsblock auf der Geschichte Europas“, so Renzi, der am Abend mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Frankreichs Präsident François Hollande in Berlin zusammentreffen soll.

+++ EU-Parlamentsfraktionen: „Unverzügliche“ Brexit-Verhandlungen nötig +++

Die vier großen Fraktionen im Europaparlament drängen zur Eile. Über einen Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union (EU) solle „unverzüglich“ verhandelt werden, um eine „schädliche Unsicherheit“ für alle zu vermeiden, hieß es am Montag in einem Antrag von EVP, Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen. Die Fraktionen wollen, dass das Parlament den britischen Premierminister David Cameron auffordert, den anderen Staats- und Regierungschefs beim Gipfeltreffen am Dienstag das Ergebnis des Brexit-Referendums mitzuteilen. Dieser Schritt ist notwendig, um das Verfahren für einen Austritt einleiten zu können. Die beim EU-Gipfel im Februar ausgehandelten Reformangebote an Großbritannien seien außerdem nun vom Tisch, betonten die Fraktionen.

"Wir müssen Europa entgiften"
Nach dem Brexit-Votum in Großbritannien muss Europa aus Sicht von SPD-Parteichef Sigmar Gabriel zur Überwindung der Vertrauenskrise sozialer und gerechter werden. Es gebe eine „massive Spaltung zwischen Gewinnern und Verlierern“ in der Europäischen Union, sagte der Vizekanzler am Samstag in Bonn zum Auftakt einer Reihe von SPD-Regionalkonferenzen. Ob sich die wirtschaftliche Lage in Deutschland in Zukunft weiter positiv entwickle, hänge entscheidend davon ab, ob Europa „stabil und kräftig“ bleibe. Gabriel betonte, Deutschland sei „Nettogewinner“ und nicht „Lastesel der Europäischen Union“, wie oft behauptet werde. Der Blick der Welt auf Europa werde sich ohne Großbritannien in der EU verändern. Rund 25 Millionen Menschen suchten in Europa Arbeit, darunter viele junge Leute - das sei „verheerend“, betonte Gabriel. „Da geht die Idee Europas verloren“ - und das erzeuge Wut und Verachtung. Der Zorn richte sich gegen das „Sparregime aus Brüssel“ und oft ebenfalls gegen Berlin. Klar sei daher, „dass wir Europa entgiften müssen“. Die EU sei von Anfang an auch als „Wohlstandsprojekt“ gedacht gewesen. Das gehöre dringend wieder stärker in den Fokus. Die EU-Schuldenländer brauchten mehr Freiraum für Investitionen in Wachstum, Arbeit und Bildung, forderte Gabriel. Quelle: dpa
EU-Parlamentspräsident Martin Schulz hat den britischen Premierminister scharf kritisiert. Auf die Frage, was er davon halte, dass David Cameron erst im Oktober zurücktreten will, warf Schulz dem Premier vor, er nehme aus parteitaktischen Überlegungen erneut einen ganzen Kontinent „in Geiselhaft“. dpa dokumentiert den Wortlaut: „Offen gestanden: Ich finde das skandalös. Zum wiederholten Male wird ein ganzer Kontinent in Geiselhaft genommen für die parteiinternen Überlegungen der konservativen Partei Großbritanniens. Er hat vor drei Jahren, als er in seiner Partei unter Druck stand, den Radikalen am rechten Rand der Tories gesagt: Ich gebe Euch ein Referendum, dafür wählt Ihr mich wieder. Das hat geklappt. Da wurde ein ganzer Kontinent verhaftet für seine parteiinternen taktischen Unternehmungen. Jetzt ist das Referendum gescheitert. Jetzt sagt der gleiche Premierminister, ja, Ihr müsst aber warten, bis wir (...) mit Euch verhandeln, bis der Parteitag der Konservativen im Oktober getagt hat. Dann trete ich zurück, dann gibt's einen neuen Parteichef, der wird dann Premierminister. Also ehrlich gesagt: Man kann einen Parteitag auch morgen früh einberufen, wenn man das will. Ich finde das schon ein starkes Stück, das der Herr Cameron mit uns spielt.“ Quelle: dpa
Obama, Brexit Quelle: AP
Putin, Brexit Quelle: REUTERS
Bundeskanzlerin Angela Merkel Quelle: REUTERS
Portugals Präsident Marcelo Rebelo de Sousa erklärt, dass der Ausgang des Referendums „uns alle nur traurig stimmen kann“. In einer vom Präsidialamt am Freitag in Lissabon veröffentlichten Erklärung betonte das 67 Jahre alte Staatsoberhaupt aber auch: „Das Europäische Projekt bleibt gültig.“ Allerdings sei es „offensichtlich“, so Rebelo de Sousa, dass „die Ideale (der EU) neu überdacht und verstärkt“ werden müssten. Quelle: dpa
EU-Parlamentspräsident Martin Schulz Quelle: dpa

+++ Britisches Kabinett soll mit Brexit-Vorbereitungen beginnen +++

Die britische Regierung soll nach dem Willen von Premierminister David Cameron bereits mit den Vorbereitungen für den Austritt aus der Europäischen Union beginnen. Ansonsten habe Cameron seine Minister angewiesen, dass alles seinen gewohnten Gang gehen solle, sag seine Sprecherin. Wann der Antrag auf EU-Austritt nach Artikel 50 des EU-Vertrages in Brüssel aktiviert werde, sei die Entscheidung Großbritanniens. EU-Vertreter dringen allerdings darauf, dass die Briten ihren Austritt zügig erklären und die Verhandlungen darüber bald starten.

+++ Berlin: Jetzt rasche Austritts-Gespräche +++

Unmittelbar vor dem EU-Gipfel setzt Berlin die britische Regierung im Streit um die Austrittsverhandlungen unter Handlungsdruck. Nach dem Brexit-Votum müsse London bald Klarheit über den Fahrplan zum Ausstieg aus der EU schaffen. „Die Bundesregierung will keine Hängepartie“, sagt Regierungssprecher Steffen Seibert in Berlin. Der SPD ist auch diese Ansage zu wenig. Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) sagt der Deutschen Presse-Agentur: „Das Signal der Staats- und Regierungschefs muss lauten: Klarheit statt Taktiererei, entschlossenes Handeln statt Zaudern.“

Bundeskanzlerin Angela Merkel warnt in einer Pressekonferenz, der Brexit dürfe nicht zur Hängepartie werden. Sie habe aber ein gewisses Verständnis dafür, dass die britische Regierung jetzt die Auswirkungen des Referendums analysiere. Die EU müsse alles tun, um Fliehkräften entgegen zu wirken. Zudem schließt die Kanzlerin aus, dass die EU mit Großbritannien ohne einen formellen Austrittsantrag bereits Verhandlungen über das zukünftige Verhältnis führt. Sie habe ein gewisses Verständnis dafür, dass sich die britische Regierung derzeit noch mit der Analyse der Brexit-Entscheidung befasse, so Merkel. Es dürfe aber keine dauerhafte Hängepartie" geben, unter der die Wirtschaft sowohl in Großbritannien als auch auf dem Kontinent leiden werde. "Deshalb erwarte ich auch zu einem bestimmten Zeitpunkt die Mitteilung nach Artikel 50", sagt sie unter Verweis auf den entsprechenden Paragrafen des EU-Vertrages, ohne aber ein Datum zu nennen. "Es ist ... auch klar, dass es keine informellen Verhandlungen geben kann, bevor nicht die Absicht förmlich erklärt ist, aus der EU auszuscheiden."

+++ Brexit trifft britische und europäische Banken hart +++

Banken auf beiden Seiten des Ärmelkanals gehören schon jetzt zu den größten Verlierern des Austritts Großbritanniens aus der EU. Analysten stufen nicht nur britische, sondern auch andere europäische Banken und US-Investmentbanken massenhaft herab, Börsianer warfen deren Aktien aus den Portfolios. Die Hoffnung auf steigende Zinsen in Europa sei in noch weitere Ferne gerückt, und die Konjunktur werde sich zumindest auf der Insel eintrüben, heißt es in vielen Studien. Die Kapitalkosten für die Banken dürften steigen. Der europäische Banken-Index, der am Freitag um 15 Prozent eingebrochen war, sackte um weitere 7,7 Prozent auf den niedrigsten Stand seit der Euro-Schuldenkrise vor vier Jahren.

Die Deutsche-Bank-Aktie fiel um bis zu 9,7 Prozent auf ein Allzeittief von 12,07 Euro. Auch die Commerzbank -Aktie kam unter die Räder: Sie fiel um 5,8 Prozent auf 5,84 Euro. Noch schlimmer getroffen wurden die britischen Geldhäuser. Barclays fielen um 18 Prozent, Royal Bank of Scotland (RBS) verloren mehr als ein Viertel ihres Wertes auf 152 Pence, den tiefsten Stand seit siebeneinhalb Jahren. Als relativ "sicherer Hafen" gelten dagegen die auf Asien ausgerichteten Investmentbanken HSBC (minus 1,9 Prozent) und Standard Chartered (minus 6,1). RBC Capital kürzte die Kursziele für britische Banken pauschal um 30 Prozent.

Die größten Netto-Zahler der EU
Touristen in Helsinki Quelle: dapd
Eine Windkraftanlage nahe Dänemark Quelle: dapd
Der Wiener Opernball Quelle: dpa
Da Atomium in Belgien Quelle: REUTERS
Eine Mitarbeiterin in der Schwedischen Botschaft in Minsk Quelle: REUTERS
Frau Antje Quelle: AP
Das Colosseum Quelle: REUTERS

+++ Britisches Pfund fällt auf Tiefstand +++

Das Britische Pfund ist am Montag weiter unter Druck geraten und noch unter den Stand vom Freitag direkt nach dem Brexit-Votum gefallen. Am Montagmittag kostete die britische Währung noch 1,3222 US-Dollar und damit so wenig wie seit 1985 nicht mehr. Am Freitag hatte das Pfund nach dem Ja der Briten zum Austritt aus der Europäischen Union mehr als 11 Prozent an Wert verloren und war bis auf 1,3229 Dollar gefallen. Ausschlaggebend war, dass die Märkte von einem Verbleib des Landes in der EU ausgegangen waren und vom Brexit komplett auf dem falschen Fuß erwischt wurden.


+++ Brexit trifft auch deutschen Arbeitsmarkt +++

Der Brexit wird nach Einschätzung von Volkswirten deutscher Großbanken auch für den deutschen Arbeitsmarkt nicht ohne Folgen bleiben. Gerade in der von Großbritannien abhängigen Exportindustrie könnten künftig zunächst geplante Stellen unbesetzt bleiben und damit den seit Jahren anhaltenden Beschäftigungsaufbau bremsen, erklärten Ökonomen in einer Umfrage der Deutschen Presse-Agentur. Im schlimmsten Fall könnte auch die Arbeitslosigkeit steigen, warnen die Fachleute.

Das sagen Ökonomen zum Brexit-Entscheid

+++ Japan profitiert von Brexit +++

Die Unruhe nach der Brexit-Abstimmung dürfte in Japan Experten zufolge der Partei von Ministerpräsident Shinzo Abe bei den Oberhauswahlen am 10. Juli zugutekommen. "In unruhigen Zeiten setzt der japanische Wähler auf Stabilität", sagt Gerry Curtis von der Columbia University. Am Wochenende hatte Abe vor politischen Abenteuern mit anderen Parteien gewarnt.


+++ Wirtschaftsbeziehungen aufrecht erhalten +++

Die deutsche Wirtschaft dringt darauf, die engen Wirtschaftsbeziehungen zu Großbritannien auch nach einem Brexit aufrechtzuerhalten. Der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Martin Wansleben, fordert in der "Bild"-Zeitung von EU und britischer Regierung rasch Klarheit. "Die deutschen Unternehmen müssen so schnell wie möglich wissen, wo es lang geht."

+++ 2017: Leichte Rezession +++

Volkswirte von Goldman Sachs gehen davon aus, dass Großbritannien wegen des Ausgangs der Brexit-Abstimmung bis Anfang 2017 eine "leichte Rezession" durchmachen wird. Auch in den EU-Staaten und den USA werde das Wirtschaftswachstum nicht so hoch ausfallen wie bislang erwartet, heißt es in einem Brief der US-Großbank an ihre Kunden.

Welche Branchen besonders betroffen sind
AutoindustrieDie Queen fährt Land Rover – unter anderem. Autos von Bentley und Rolls-Royce stehen auch in der königlichen Garage. Die britischen Autobauer werden es künftig wohl etwas schwerer haben, ihre Autos nach Europa und den Rest der Welt zu exportieren – je nach dem, was die Verhandlungen über eine künftige Zusammenarbeit ergeben. Auch deutsche Autobauer sind betroffen: Jedes fünfte in Deutschland produzierte Auto geht nach Angaben des Branchenverbandes VDA ins Vereinigte Königreich. Autos deutscher Konzernmarken haben danach auf der Insel einen Marktanteil von gut 50 Prozent. BMW verkaufte in Großbritannien im vergangenen Jahr 236.000 Autos – das waren mehr als 10 Prozent des weltweiten Absatzes. Bei Audi waren es 9, bei Mercedes 8, beim VW-Konzern insgesamt 6 Prozent. Für Stefan Bratzel wird der Brexit merkliche negative Auswirkungen auf die Automobilindustrie haben, die im Einzelnen noch gar nicht abschließend bewertet werden können. „Der Brexit wird so insgesamt zu einem schleichenden Exit der Automobilindustrie von der Insel führen“, sagt der Auto-Professor. „Wirkliche Gewinner gibt es keine.“ Quelle: REUTERS
FinanzbrancheBanken brauchen für Dienstleistungen innerhalb der EU rechtlich selbstständige Tochterbanken mit Sitz in einem EU-Staat. Derzeit können sie grenzüberschreitend frei agieren. Durch den Brexit werden Handelsbarrieren befürchtet. Quelle: REUTERS
FinTechsDie Nähe zum Finanzplatz London und die branchenfreundliche Gesetzgebung machten Großbritannien in den vergangenen Jahren zu einem bevorzugten Standort für Anbieter internetbasierender Bezahl- und Transaktionsdienste, im Branchenjargon „FinTech“ genannt. Das dürfte sich nun ändern. Der Brexit-Entscheid werde bei den rund 500 im Königreich ansässigen FinTechs „unvermeidlich“ zu einer Abwanderung von der Insel führen, erwartet Simon Black. Grund dafür sei, so der Chef des Zahlungsdienstleisters PPRO, da ihr „Status als von der EU und EWR anerkannte Finanzinstitutionen nun gefährdet ist“. Simon erwartet von sofort an eine Verlagerung des Geschäfts und die Schaffung neuer Arbeitsplätze außerhalb von Großbritannien. „FinTech-Gewinner des Brexits werden meines Erachtens Amsterdam, Dublin und Luxemburg sein.“ Als Folge entgingen Großbritannien, kalkuliert Black, „in den nächsten zehn Jahren rund 5 Milliarden Britische Pfund an Steuereinnahmen verloren“. Quelle: Reuters
WissenschaftAuch in der Forschungswelt herrscht beidseits des Kanals große Sorge über die Möglichkeiten zukünftiger Zusammenarbeit. Die EU verliere mit Großbritannien einen wertvollen Partner, ausgerechnet in einer Zeit, in der grenzüberschreitende wissenschaftliche Zusammenarbeit mehr denn je gebraucht werde, beklagt etwa Rolf Heuer, Präsident der Deutschen Physikalischen Gesellschaft. „Wissenschaft muss helfen, Grenzen zu überwinden.“ Venki Ramakrishnan, der Präsident der Royal Society, fordert, den freien Austausch von Ideen und Menschen auch nach einem Austritt unbedingt weiter zu ermöglichen. Andernfalls drohe der Wissenschaftswelt „ernsthafter Schaden“. Wie das aussehen kann, zeigt der Blick in die Schweiz, die zuletzt, nach einer Volksentscheidung zur drastischen Begrenzung von Zuwanderung, den Zugang zu den wichtigsten EU-Forschungsförderprogramme verloren hat. Quelle: dpa
DigitalwirtschaftDie Abkehr der Briten von der EU dürfte auch die Chancen der europäischen Internetunternehmen im weltweiten Wettbewerb verschlechtern. „Durch das Ausscheiden des wichtigen Mitgliedslands Großbritannien aus der EU werde der Versuch der EU-Kommission deutlich erschwert, einen großen einheitlichen digitalen Binnenmarkt zu schaffen, um den Unternehmen einen Wettbewerb auf Augenhöhe mit Ländern wie den USA oder China zu ermöglichen“, kommentiert Bernhard Rohleder, Hauptgeschäftsführer beim IT-Verband Bitkom, den Volksentscheid. Daneben werde auch der Handel zwischen den einzelnen Ländern direkt betroffen: 2015 exportierte Deutschland ITK-Geräte und Unterhaltungselektronik im Wert von 2,9 Milliarden Euro nach Großbritannien geliefert; acht Prozent der gesamten ITK-Ausfuhren aus Deutschland. „Damit ist das Land knapp hinter Frankreich das zweitwichtigste Ausfuhrland für die deutschen Unternehmen.“ Quelle: REUTERS
ChemieindustrieDie Unternehmen befürchten einen Rückgang grenzüberschreitender Investitionen und weniger Handel. Im vergangenen Jahr exportierte die Branche nach Angaben ihres Verbandes VCI Produkte im Wert von 12,9 Milliarden Euro nach Großbritannien, vor allem Spezialchemikalien und Pharmazeutika. Das entspricht 7,3 Prozent ihrer Exporte. Von der Insel bezogen die deutschen Firmen Waren für 5,6 Milliarden Euro, vor allem pharmazeutische Vorprodukte und Petrochemikalien. Quelle: REUTERS
ElektroindustrieNach einer Umfrage des Ifo-Instituts sehen sich besonders viele Firmen betroffen (52 Prozent). Das Vereinigte Königreich ist der viertwichtigste Abnehmer für Elektroprodukte „Made in Germany“ weltweit und der drittgrößte Investitionsstandort für die Unternehmen im Ausland. Dem Branchenverband ZVEI zufolge lieferten deutsche Hersteller im vergangenen Jahr Elektroprodukte im Wert von 9,9 Milliarden Euro nach Großbritannien. Dies entspreche einem Anteil von 5,7 Prozent an den deutschen Elektroausfuhren. Quelle: dpa

+++ Osborne will Märkte beruhigen +++

Der britische Finanzminister George Osborne will mit einer Erklärung noch vor Handelsbeginn die Finanzmärkte beruhigen. Osborne werde sich am Montag äußern, teilte ein Sprecher des Ministers am späten Sonntagabend in London mit. Osborne werde erklären, dass die finanzielle und wirtschaftliche Stabilität des Vereinigten Königreiches auch im Lichte des Ergebnisses der Volksabstimmung gegeben sei. In der Stellungnahme werde es auch um die Maßnahmen gehen, die Osborne und die gesamte Regierung ergreifen wollten, um die nationalen Interessen in nächster Zeit zu schützen.

+++ Merkel und Hollande demonstrieren Einigkeit +++

Bundeskanzlerin Merkel und Frankreichs Präsident Hollande wollen Unsicherheiten vermeiden. Darauf hätten sich die beiden Politiker bei einem halbstündigen Telefongespräch verständigt, verlautete am Sonntagabend aus dem Elysee-Palast. Sie seien sich einig im Umgang mit dem Ergebnis des Referendums gewesen. Die Bundesregierung bestätigte das Telefonat, verwies aber für Inhalte auf Montag. Merkel und Hollande kommen zum Wochenauftakt in Berlin mit dem italienischen Ministerpräsidenten Matteo Renzi zusammen, um über die Konsequenzen des britischen Referendums zu beraten. Zuvor stehen Gespräche mit EU-Ratspräsident Donald Tusk auf der Agenda.


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