All das Für und Wider, all die Warnungen vor Chaos und Absturz, all die Appelle an die Vernunft – es hat nichts genützt. Das Brexit-Abkommen ist am Dienstagabend im britischen Unterhaus krachend gescheitert. Rund zehn Wochen vor dem geplanten Austrittsdatum stehen die britische Premierministerin Theresa May und die Europäische Union vor einem Debakel. Wie nun auf die Schnelle einen Plan B zimmern? May will am kommenden Montag ihren Vorschlag machen. Welche Optionen bleiben noch, um einen chaotischen Bruch am 29. März abzuwenden?
1. Eine zweite Abstimmung im Unterhaus
Da die Niederlage mit 432 zu 202 Stimmen dramatisch ausfiel, ergibt ein neues Votum über denselben Deal wohl kaum Sinn. Vor der Abstimmung am Dienstagabend hatte zum Beispiel der CDU-Brexit-Experte Elmar Brok gesagt, bei 80 Gegenstimmen oder weniger wäre ein zweiter Anlauf denkbar. Danach meinte Brok: „Die Niederlage im Unterhaus für das Austrittsabkommen war so hoch, dass die britische Regierung jetzt am Zuge ist.“
Diese Botschaft schallte einhellig aus Brüssel nach London. „Ich rufe das Vereinigte Königreich dringend auf, uns seine Vorstellungen über das weitere Vorgehen so rasch wie möglich mitzuteilen“, forderte EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker. Das bedeutet auch: Die EU will von sich aus erstmal nichts Neues anbieten. Stattdessen hofft sie auf Bewegung in London – entweder eine veränderte Position Mays oder mehr Einfluss der Opposition. Würde sich Großbritannien auf eine engere Bindung an die EU einlassen, zum Beispiel in einer Zollunion, müsse das Austrittsabkommen nicht tot sein, meinte Brok.
Zwei Faktoren könnten einen Umschwung in London fördern, sagte Fabian Zuleeg von der Brüsseler Denkfabrik European Policy Centre (EPC) der Deutschen Presse-Agentur: „Zusätzlicher Zeitdruck könnte helfen“ – nämlich das immer näher rückende Austrittsdatum. „Und der wirtschaftliche Druck wird sich erhöhen.“
2. Neuverhandlungen mit der EU
Nachverhandlungen des Brexit-Vertragsentwurfs wurden von der EU bislang kategorisch ausgeschlossen. Eine Hoffnung auf Neuverhandlung gibt es aber dennoch: Nach Angaben von EU-Chefunterhändler Michel Barnier wäre man bereit, über einen neuen Austrittsvertrag mit Großbritannien zu verhandeln. Voraussetzung sei aber, dass die Briten ihre bisherigen „roten Linien“ ändern würden, sagte Barnier am Mittwoch in Straßburg. Es müsse aber weiter eine Sicherung geben, die eine physische Grenze zwischen Irland und Nordirland verhindere. Auch die Position der EU scheint also nicht unverrückbar zu sein.
3. Die Verschiebung des Brexits
Premierministerin Theresa May hat eine Verlängerung der Austrittsfrist über den 29. März hinaus immer und immer wieder abgelehnt. Aber es wäre nicht das erste Mal, dass die konservative Regierungschefin ihre Linie ändert. Sie könnte einen Antrag bei den übrigen 27 EU-Staaten stellen und die würden nach Darstellung von Diplomaten wohl auch zustimmen.
Doch wäre das aus EU-Sicht nur sinnvoll, wenn es eine konkrete Begründung gäbe, etwa eine Neuwahl oder ein zweites Referendum in Großbritannien. Und es ginge nur für sehr begrenzte Zeit. Denn nach der Europawahl vom 23. bis 26. Mai konstituiert sich Anfang Juli das neue Europaparlament.
Sind die Briten da noch EU-Mitglied, müssten auch sie Abgeordnete nach Straßburg schicken. Dagegen rebelliert nicht nur der Fraktionschef der Europäischen Volkspartei (EVP), Manfred Weber. Es wäre den Europäern nicht zu vermitteln, „dass ein Land, das die Europäische Union verlassen will, bei den Wahlen zum Europäischen Parlament, bei der Zukunftsgestaltung des Kontinents für die nächsten fünf Jahre, teilnimmt“, warnte Weber am Dienstag. Zudem die britische Regierung dafür auch relativ spontan eine Wahl organisieren müsste.
4. Neues Referendum oder Neuwahl
Für ein zweites Referendum über die EU-Mitgliedschaft Großbritanniens wäre die Frist bis Ende Juni sehr knapp. EPC-Fachmann Zuleeg rechnete vor, dass dies in Großbritannien nach Richtlinien der Wahlkommission rund fünf Monate Vorlauf bräuchte. Außerdem sei unklar, über welche Frage die Briten abstimmen sollten.
Auch der britische Botschafter Sebastian Wood geht nicht davon aus, dass es in Großbritannien eine weitere Volksabstimmung über den Ausstieg aus der EU geben wird. „Im Moment sehe ich keine Mehrheit im Parlament für ein zweites Referendum“, sagte Wood am Mittwoch im ZDF-„Morgenmagazin“. Zudem zeigten Umfragen, dass es in der britischen Bevölkerung keinen Stimmungswandel gebe. „Der Willen des Parlaments bleibt, den Brexit durchzuführen.“ Der Ausstieg aus dem Brexit bleibt daher unwahrscheinlich.
Eine Parlaments-Neuwahl dagegen könnte eine gütliche Brexit-Lösung voranbringen, zumal die oppositionelle Labour-Partei mehrheitlich eine engere Bindung an die EU befürwortet, mit einer Zollunion und Anbindung an den EU-Binnenmarkt. Labour-Chef Jeremy Corbyn will den Sturz der Regierung bereits am Mittwoch über ein Misstrauensvotum erzwingen. Seine Erfolgsaussichten gelten allerdings als gering.
Misstrauensvotum im britischen Parlament
Die oppositionelle Labour-Partei hat mit Unterstützung anderer kleinerer Parteien eine Abstimmung über einen Misstrauensantrag gegen die amtierende Regierung gestellt. Labour-Chef James Corbyn wird die Debatte über das Misstrauensvotum am Mittwoch um 14.00 Uhr MEZ eröffnen, May selbst wird ebenfalls das Wort ergreifen. Die Abstimmung ist für 20.00 Uhr MEZ geplant, das Ergebnis wird gegen 20.15 Uhr MEZ erwartet. Im Unterhaus sitzen 650 Abgeordnete. May braucht 318 Stimmen, da sieben Abgeordnete der irisch-nationalistischen Sinn Fein an Sitzungen des Parlaments grundsätzlich nicht teilnehmen, der Präsident der Kammer und seine drei Stellvertreter nicht abstimmen und die Stimmen von vier Abgeordneten, die bei der Auszählung helfen, nicht mitgezählt werden.
Bekommt May mindestens 318 Stimmen, bleibt die Regierung im Amt. Allerdings gibt es keine Vorgaben, wann das nächste Misstrauensvotum möglich ist. Labour könnte den Schritt also jederzeit wiederholen. Mit Blick auf den Brexit hat Mays Regierung nach einem Beschluss des Unterhauses drei Tage Zeit, um dem Parlament einen Plan für das weitere Vorgehen vorzulegen.
Wenn May die Abstimmung verliert, muss sie nicht automatisch zurücktreten. Es folgt eine 14-tägige Übergangsfrist, in der jede Partei – einschließlich Mays konservativer Torys – versuchen kann, eine neue Regierung zu bilden. Sollte dies gelingen, müsste sich diese neue Regierung im Unterhaus zur Wahl stellen. Wird binnen 14 Tagen keine neue Regierung gebildet, wären Neuwahlen die Folge. In diesem Szenario ist es denkbar unwahrscheinlich, dass der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union wie bislang geplant am 29. März erfolgen würde.
Die Premierministerin verfügt mit ihren Torys im Unterhaus nicht über eine eigene Mehrheit. May führt eine Minderheitsregierung, die von der nordirischen, unionistischen Partei DUP geduldet wird. Die DUP hat sich vehement gegen den EU-Austrittsvertrag ausgesprochen, weil sie eine Trennung Nordirlands von Großbritannien fürchtet. Allerdings hat sie angekündigt, May bei dem Misstrauensvotum zu unterstützen. Auch ist zu erwarten, dass die Abgeordneten der Torys an Mays Seite stehen werden, da kaum jemand ein Interesse an Neuwahlen hat. Denn der Ausgang einer Wahl in dem zutiefst gespaltenen Land scheint zum gegenwärtigen Zeitpunkt völlig offen.
5. Rückzieher des Brexit-Antrags
Diesen Weg hat der Europäische Gerichtshof in einem Urteil im Dezember eröffnet: Großbritannien könnte seinen Antrag auf Austritt aus der Europäischen Union jederzeit einseitig zurückziehen, also auch noch unmittelbar vor dem Austrittsdatum. Das Land bliebe einfach wie bisher Mitglied der EU. Ein weiterer Austrittsantrag ist damit nicht ausgeschlossen. Man hätte Zeit gewonnen. Aber: „Das ist sehr unwahrscheinlich“, sagte der SPD-Fraktionschef im Europaparlament, Udo Bullmann. Einem solchen Rückzieher müsste das britische Parlament zustimmen. „Das ist eine sehr hohe Hürde“, meinte auch Zuleeg. In der britischen Innenpolitik spielte diese Option bisher kaum eine Rolle.
6. Der Sturz über die Klippe
Oppositionsführer Corbyn verwies in der Parlamentsdebatte am Dienstag darauf, dass das Unterhaus mehrheitlich gegen einen No-Deal-Brexit sei, also gegen einen ungeregelten Austritt ohne Vertrag, bei dem dramatische wirtschaftliche Verwerfungen befürchtet werden. Aber wie die geordnete Lösung aussehen soll, ist damit immer noch unklar. Angesichts der tiefen Spaltung der britischen Politik und der Tatsache, dass einige britische Abgeordnete einen „No Deal“ nicht schlimm finden, wird nicht ausgeschlossen, dass das Land quasi aus Versehen oder aus Zeitnot doch über die Klippe schlittert. Für Wirtschaft, Arbeitnehmer und Bürger brächte dies dramatische Unsicherheit und voraussichtlich einen Konjunktureinbruch. Sozialdemokrat Bullmann bleibt zuversichtlich: „Wenn alle einigermaßen bei Trost bleiben, muss das nicht sein.“