Greift die Regierung in London die BBC an, um von Boris Johnsons „Partygate“-Problem abzulenken? Großbritanniens Premier kämpft nach einer Reihe von Enthüllungen um sein politisches Überleben. Dabei geht es um illegale Partys in der Downing Street während mehrerer Lockdowns im ersten Pandemiejahr 2020, von denen Johnson gewusst zu haben scheint. Am Wochenende kündigte seine Regierung überraschend eine Reihe von Maßnahmen an, die wie maßgeschneidert wirken, um ein konservatives Publikum zu beschwichtigen.
Eine dieser Maßnahmen: Die Rundfunkgebühren, die derzeit bei 159 Pfund im Jahr liegen, sollen in den kommenden zwei Jahren eingefroren werden. Kulturministerin Nadine Dorries kündigte am Montag vor dem Unterhaus des Parlaments eine Debatte darüber an, ob das Finanzierungsmodell des öffentlich-rechtlichen Rundfunks nach 2028 grundsätzlich geändert werden solle. Damit weichte Dorries ihre eigene Position auf. Noch am Sonntag hatte die Ministerin in einem Tweet die Abschaffung der Rundfunkgebühren ab 2027 angedeutet.
Dass eine solche Attacke auf die BBC von Dorries kam, war wenig überraschend. Schließlich lamentiert die Tory-Politikerin, die sich gerne als rechte Kulturkämpferin darstellt und Kritiker bisweilen auf Twitter öffentlich beschimpft, schon seit Jahren die angebliche „Linkslastigkeit“ in der Berichterstattung der BBC. Ähnlich wie in anderen Ländern beklagen auch in Großbritannien vor allem Figuren am rechten Rand, ihre Ansichten fänden sich zu selten in der Berichterstattung wieder. Und so fügte Dorries vor dem Parlament hinzu, die BBC müsse sich „mit Fragen rund um Unparteilichkeit und Gruppendenken befassen“.
Damit steht sie in ihrer Partei nicht alleine da. Erst vor wenigen Tagen forderte der Tory-Politiker und Brexit-Hardliner Andrew Rosindell, die BBC solle wieder regelmäßig die Nationalhymne spielen, um so die „Einheit“ und „den Stolz in die Nation“ zu fördern. Die regierungsnahen Zeitungen des Landes laufen seit Dorries“ Vorstoß über mit Kommentaren über die angeblich zu regierungskritische und linkslastige BBC. Einige Brexit-Unterstützer wittern hinter der Berichterstattung über die Partys in der Downing Street gar einen koordinierten Angriff auf den EU-Austritt.
Schrille Kritik von rechts am öffentlich-rechtlichen Rundfunk ist freilich kein rein britisches Phänomen. Auch in Deutschland vergeht kaum eine Woche, in der eine AfD-Politikerin oder ein AfD-Politiker die Schließung des „linksgrünen Staatsfunks“ fordert. Auch Teile der CDU sind gegen solche Impulse offenbar nicht immun. Aktuelles Beispiel: In Sachsen-Anhalt möchte die CDU „Das Erste“, das gemeinsame Programm der Landesrundfunkanstalten der ARD, Berichten zufolge offenbar abschalten. Einer der Gründe: In der ARD kämen „Minderheitenmeinungen“ stärker vor als die angebliche „Meinung der Mehrheit“. Außerdem werde in den Öffentlich-rechtlichen Fragen des Klimaschutzes zu viel Raum gegeben, findet CDU-Parlamentsgeschäftsführer Markus Kurze laut der Mitteldeutschen Zeitung, ohne diejenigen zu Wort kommen zu lassen, die dafür „bezahlen“ müssten. Und es werde zu viel gegendert.
Einer der wohl prominentesten Gegner der britischen BBC ist Rupert Murdoch. Boris Johnsons Schwester Rachel offenbare kürzlich, dass der rechte Medienmogul dem Premier einmal bei einem Besuch auf dem Landsitz des Premiers dazu geraten habe, die BBC „loszuwerden“. Murdochs News Corp gehören in Großbritannien das Revolverblatt „The Sun“ und die konservative Tageszeitung „The Times“ sowie mehrere Radiosender und der Verlag HarperCollins. In Kürze möchte der Unternehmer, der in den USA den rechten Fernsehkanal Fox News betreibt, in Großbritannien den Sender talkTV starten.
Den Angriffen von rechts stehen seit Jahren Studien gegenüber, die zeigen, dass die BBC beim Großteil der britischen Bevölkerung ein hohes Vertrauen genießt. Eine im vergangenen Jahr veröffentlichte Studie zeigte, dass selbst Briten, die sich politisch als rechts der Mitte verstünden, der BBC ebenso viel Vertrauen entgegenbrächten wie konservativen Tageszeitungen.
Die Regierung bestreitet, dass ihr Vorstoß gegenüber der BBC etwas mit den politischen Problemen des Premierministers zu tun habe. Angesichts des Timings und der Umstände wirkt das wenig glaubwürdig.
Zahlreiche britische Medien berichteten in den vergangenen Tagen sogar den internen Namen dieses Vorstoßes: „Operation Red Meat“: Offenbar hofft Johnson darauf, dass er noch einmal seinen Hals aus der sprichwörtlichen Schlinge ziehen kann, wenn er seinen Abgeordneten und den Tory-Parteimitgliedern möglichst viele saftige Fleischbrocken entgegenwirft. Ein baldiges Ende alles Covid-Maßnahmen ist dabei ebenso vorstellbar wie weitere Gelder für den wirtschaftlich benachteiligten Norden Englands, der bei den Wahlen 2019 zahlreiche neue Tory-Abgeordnete produziert hat.
Eine weiteres „Fleischstück“, um die Anhänger bei Laune zu halten, ist bereits bekannt: So erklärte Innenministerin Priti Patel Anfang der Woche, dass in Zukunft die Marine eingesetzt werden solle, um Schlauchboote mit Flüchtlingen im Ärmelkanal abzufangen. Pläne, die Armee auch gegen regierungskritische Journalisten einzusetzen, gibt es allerdings offenbar vorerst keine. Immerhin.
Ob diese Vorstöße dabei helfen werden, Johnsons drohenden Sturz zu verhindern, ist fraglich. Immerhin sprechen sich Umfragen zufolge derzeit zwei Drittel aller Wählerinnen und Wähler für Johnsons Rücktritt aus. Fast die Hälfte aller Brexit-Unterstützer, die 2019 für Johnson gestimmt haben, glauben ebenfalls, der angeschlagene Premier solle seinen Posten räumen. Sollte sich bei den Tory-Abgeordneten der Eindruck verfestigen, dass Johnson wegen seiner Unbeliebtheit eine Gefahr für ihre politischen Ambitionen ist, könnten sie sich schnell gegen ihn wenden.
Dann dürften auch keine rechtspopulistischen Beruhigungspillen mehr helfen.
Mehr zum Thema: Der britische Premier ist auf dem derzeitigen Tiefpunkt als Politiker. Immer mehr Briten dämmert, dass er sie nicht nur über Lockdown-Partys belogen haben könnte.