Am Rand des Scheiterns Kommt nun der Chaos-Brexit?

Die Verhandlungen zwischen Großbritannien und der EU könnten vor dem Aus stehen. Quelle: dpa

Die Verhandlungen zwischen Großbritannien und der EU könnten vor dem Aus stehen. London geht mit einem Gesetz in die Offensive, das den bereits unterzeichneten Austrittsvertrag brechen würde. Was treibt London an?

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Besonders rund liefen die Gespräche zwischen Großbritannien und der EU noch nie. Beide Seiten liefern sich seit Jahren einen Stellungskrieg. Fortschritte wurden in mühseliger Kleinarbeit erkämpft. Und oft genug kamen die Verhandlungen ganz zum Stillstand, gefolgt von Vorwürfen und gegenseitigen Anschuldigungen. Wie oft bei schwierigen Scheidungen.

Der bisher größte Lichtblick war das Austrittsabkommen, auf das sich beide Seiten im vergangenen Jahr verständigt haben und das im Januar in Kraft trat. Zusätzlich verständigten sie sich damals auf eine gemeinsame Willenserklärung über die zukünftigen Beziehungen.

Doch jetzt stecken die Gespräche über diese zukünftigen Beziehungen in der Zielgerade nicht nur fest: Sie sind an den Rand des Scheiterns geraten.

Denn die Regierung von Boris Johnson hat diese Woche einen Gesetzentwurf vorgelegt, der es London ermöglichen soll, zentrale Teile des so schwer erarbeiten Austrittsabkommens zu übergehen. Besonders heikel ist daran, dass die Änderungen die im Austrittsabkommen vereinbarten Regelungen zu Nordirland außer Kraft setzen würden.

Die britische Regierung versucht den Gesetzentwurf, bislang erfolglos, als kleinere technische Anpassung zu verkaufen. Die EU spricht von einem schweren Rechtsbruch und droht effektiv mit dem Ende der Verhandlungen. Innerhalb von drei Wochen soll Johnsons Regierung den Gesetzentwurf zurückziehen. Tut sie das nicht, könnte Großbritannien nach dem Ende der Brexit-Übergangsfrist Ende des Jahres nicht nur aus der EU geworfen werden. Unter Umständen drohen dem Vereinigten Königreich dann sogar Sanktionen.

Ein eilig einberaumtes Krisengespräch zwischen Kabinettsminister Michael Gove und EU-Kommissionsvize Maroš Šefčovič am Donnerstag in London sollte dabei helfen, den Streit zu schlichten. Allem Anschein nach hat sich der Graben zwischen beiden Seiten nur noch vertieft.

Die EU meldete sich nach dem Treffen zuerst zu Wort. Noch am Donnerstagnachmittag drückte die EU-Kommission in einer außergewöhnlich scharf formulierten Erklärung ihren Unmut über die festgefahrene Situation aus. Das geplante Gesetz stelle eine „extrem gravierende Verletzung internationalen Rechts“ dar, hieß es in der Erklärung. Šefčovič habe bei seinem Treffen mit Gove „klargestellt, dass die rechtzeitige und volle Implementierung des Austrittsabkommens“, einschließlich des Nordirland-Protokolls, „eine rechtliche Verpflichtung“ sei. Die Europäische Union erwarte, dass das Abkommen „vollständig respektiert“ werde. Eine Verletzung des Abkommens gefährde die Verhandlungen über die zukünftigen Beziehungen.

Die Erklärung enthielt sogar ein Ultimatum: Šefčovič habe Großbritannien bei seinem Treffen mit Gove dazu aufgerufen, die umstrittenen Passagen aus dem Gesetzentwurf bis spätestens Ende des Monats zu entfernen.

Der Guardian berichtete gar von einem EU-Rechtsgutachten, demzufolge Brüssel davon ausgeht, dass London bereits mit seinem Gesetzentwurf das Austrittsabkommen verletzt habe. Die EU könne London vor der europäischen Justiz zur Rechenschaft ziehen, hieß es laut Guardian in dem Dokument weiter. Auf London könnten Strafen oder sogar Sanktionen zukommen.

Die Regiering beteuert jedoch weiter die Legalität ihres Handelns. Generalstaatsanwältin Suella Braverman, die oberste Rechtsberaterin der Regierung, erklärte in einem einseitigen Gutachten, dass das Parlament Gesetze verabschieden könne, „die gegen die vertraglichen Verpflichtungen des Vereinigten Königreichs verstoßen“. Das Parlament würde dabei aber „nicht verfassungswidrig“ handeln.

Führende Juristen kritisierten diese Einschätzung umgehend. Mark Elliott, Professor für Öffentliches Recht an der Universität Cambridge, bezeichnete die Einschätzung in einer Serie von Tweets als „ausgesprochen lächerlich“. So behaupte Braverman etwa, Vertragsverpflichtungen seien nur dann rechtlich bindend, wenn sie im innerstaatlichen Recht verankert seien. Das sei falsch, schrieb der Jurist. „Vertragsverpflichtungen sind für einen Staat gemäß internationalem Recht bindend.“

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