Anders gesagt
Demonstration

Die Europäer wollen zusammenbleiben – und verschieden

Ferdinand Knauß Quelle: Frank Beer für WirtschaftsWoche
Ferdinand Knauß Reporter, Redakteur Politik WirtschaftsWoche Online Zur Kolumnen-Übersicht: Anders gesagt

Kaum haben die Europäer gewählt, diskutieren die Deutschen wieder vor allem eigene Befindlichkeiten. Eine gesamteuropäische politische Willensbildung bleibt ein Traum.

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Eine seltsame Diskrepanz prägte in der vergangenen Woche den deutschen Politik- und Medienbetrieb. Europa hatte gewählt, aber die meisten Analysen und Schlussfolgerungen betrieben vor allem eine nationale Nabelschau: Schwund der GroKo-Parteien, vor allem der SPD, die Grünen im Erfolgsrausch, AKK und ihr Rezo-Kommunikations-GAU. Weniger Interesse fand die gesamteuropäische Dimension der Wahlen – vom Machtkampf um den Posten des EU-Kommissionspräsidenten einmal abgesehen. Aber auch da geht es ja vor allem darum, ob der deutsche Kandidat es wird.

Überrascht hat das wohl niemanden. Seltsam widersprüchlich bleibt es dennoch.

Ging es bei den Wahlen nicht eigentlich ausweislich all der Wahlplakate um „unser Europa“ (CDU), das die SPD „stark“ machen wollte und für den Grünen-Chef Robert Habeck ein „verdammt guter Start“ war? Den großen deutschen Parteien – mit Ausnahme der AfD – ging es, diesen Eindruck musste man gewinnen, vordergründig darum, ihre grundsätzliche Zustimmung zu der europäischen Integration von deutschen Wählern abgenickt zu bekommen. Das ist auch so geschehen. Dass die Deutschen nach wie vor grundsätzlich für die EU sind und kaum jemand an einen Dexit auch nur denken mag, kann man also abhaken. Selbst die AfD warb übrigens nicht offen gegen die EU, wie etwa die britische Brexit-Partei, sondern nur gegen weitere Integrationsschritte. Man kann also festhalten: In keinem Mitgliedsland außer Großbritannien haben Gegner der EU eine Mehrheit. Außerdem wollen selbst die in vielen Ländern deutlich stärker als in Deutschland gewählten oder gar regierenden Rechtspopulisten die EU und den Binnenmarkt nicht umgehend abschaffen.

Die Kandidaten für die Juncker-Nachfolge im Schnellcheck
Manfred Weber Quelle: imago images
Kristalina Georgiewa, 65, Bulgarien, ChristdemokratinAktueller Job: Kommissarische Präsidentin der WeltbankQualifikation: Die Ökonomin lehrte an Top-Universitäten wie Harvard, ehe sie in der EU-Kommission den Haushalt verantwortete und dafür selbst von Wolfgang Schäuble gelobt würde. Ihre Herkunft aus Osteuropa ist ein Wettbewerbsvorteil Quelle: action press
Frans Timmermans, 58, Niederlande, SozialdemokratAktueller Job: Erster Vizepräsident und EU-Kommissar für Bessere Rechtssetzung, interinstitutionelle Beziehungen, Rechtsstaatlichkeit und GrundrechtechartaQualifikation: Als Spitzenkandidat der Sozialdemokraten sieht sich der Vizepräsident der EU-Kommission in der Poleposition für die Juncker-Nachfolge. Im Wahlkampf zeigte der frühere Außenminister sein rhetorisches Talent – und seine Sprachkenntnisse. Quelle: imago images
Margrethe Vestager, 51, Dänemark, LiberaleAktueller Job: EU-WettbewerbskommissarinQualifikation: Bereits als Wirtschaftsministerin und Vize-Premier in ihrem Land hat sie ihre Durchsetzungskraft bewiesen. Seit sie hart gegen US-Konzerne wie Apple und Google durchgegriffen hat, ist sie weltbekannt. Quelle: imago images
Michel Barnier, 68, Frankreich, ChristdemokratAktueller Job: Brexit-Unterhändler der EUQualifikation: Mehrfacher Minister, mehrfacher EU-Kommissar: Barnier bringt langjährige Regierungserfahrung mit. Bei den Brexitverhandlungen gelang es ihm, die EU-Mitgliedstaaten auf einer Linie zu halten. Aber er steht nicht für einen Aufbruch. Quelle: imago images
Charles Michel, 43, Belgien, LiberalerAktueller Job: Scheidender Ministerpräsident seines LandesQualifikation: Verfügt über Talente, die in der EU genauso gefragt sind wie in seiner Heimat: Mehrsprachigkeit und Kompromissfähigkeit Quelle: action press
Helle Thorning-Schmidt, 52 Dänemark, SozialdemokratinAktueller Job: Geschäftsführerin von Save the Children InternationalQualifikation: Ehemalige Ministerpräsidentin ihres Landes; war bereits vor fünf Jahren Favoritin von Angela Merkel Quelle: action press

Darüber hinaus offenbaren diese Wahlen aber vor allem eines: Dass es eine gesamteuropäische politische Meinungs- und Willensbildung nach wie vor nicht gibt, vielleicht sogar weniger als früher. Zwischen den Wahlergebnissen in Deutschland und Frankreich oder Schweden und Italien gibt es kaum naheliegende Gemeinsamkeiten. Gesamteuropäische Trends jenseits des Niedergangs der etablierten Mitte-Rechts- und Mitte-Links-Parteien zu behaupten, wirkt konstruiert. Die Grünen twitterten zwar euphorisch: „A green wave has swept the European Parliament“. Aber war die grüne Welle auch europäisch? Eher nicht. Es ist vor allem ein deutsches Phänomen. Nur in Deutschland wählten mehr als 20 Prozent die Grünen. In einigen anderen west- und nordeuropäischen Ländern feierten sie zwar noch auf deutlich niedrigerem Niveau Erfolge. Verloren haben die Grünen dagegen ausgerechnet in Greta Thunbergs ökobewusstem Heimatland Schweden, wo sie in einer Koalitionsregierung sitzen. Vielleicht ein klitzekleiner Warnruf an die deutschen Grünen, wie ernüchternd grünes Regieren im Gegensatz zu grünem Opponieren auf Wähler wirken kann.

Und nicht zuletzt: In Südeuropa, etwa in Italien und Spanien, und in ganz Ostmitteleuropa sind grüne Parteien weiterhin fast bedeutungslos. Ausgerechnet die Fraktion der besonders integrationswilligen Grünen im Europaparlament ist daher kurioserweise so deutsch wie keine andere – und repräsentiert einen Großteil der EU überhaupt nicht. Die antinationalen deutschen Grünen sitzen übrigens mit der Scottish National Party in einer gemeinsamen Fraktion.

Nicht überall in Europa mobilisiert der Wunsch nach Klimaschutz also derart die urbane Jugend für Wahlentscheidungen wie in Deutschland. Weder in Italien und Spanien, noch in Polen oder Tschechien wird man aus diesem Wahlergebnis also vermutlich den Schluss ziehen, eine klimafreundliche Energiepolitik in die Wege zu leiten. Wenig spricht dafür, dass man dort dem deutschen Weg der forcierten Energiewende folgen wird.

In Frankreich, dem nach Bevölkerung und Wirtschaftskraft zweitgrößten Land der EU, sind vom alten Gauche-Droite-Parteiensystem, das durchaus dem altbundesrepublikanischen vergleichbar war, nur noch Trümmer übrig. In Italien sind selbst die Trümmer der alten Parteien kaum noch zu erkennen. Die Lega von Innenminister Matteo Salvini ist von allen Regierenden der größte Sieger der europäischen Wahlen. Ist das im Bewusstsein der hiesigen Eliten überhaupt schon in seiner ganzen Bedeutung realisiert worden? Eher nicht. Im drittgrößten Land der EU regiert eine Partei, die verbündet ist mit der AfD, dem Gottseibeiuns der deutschen Politik. Die Taktik der etablierten deutschen Parteien, die AfD zu isolieren, und die Notwendigkeit halbwegs gedeihlicher deutsch-italienischer Beziehungen innerhalb der EU (und erst recht der Eurozone!) dürften sich also künftig immer mehr gegenseitig im Weg stehen. Es ist gar nicht unwahrscheinlich, dass in absehbarer Zeit ein grüner Bundeskanzler Robert Habeck mit einem rechtspopulistischen Ministerpräsidenten Salvini über italienische Defizite und Bankenrettungsprogramme verhandeln wird. Das könnte sowohl bei manchem heutigen Grünen- als auch manchem AfD-Wähler zu ernüchternden Überraschungen führen.

Finanz- und wirtschaftspolitisch ist aus diesem Wahlergebnis keine gesamteuropäische Tendenz ablesbar. Nicht einmal innerhalb der meisten Fraktionen des neuen Europäischen Parlaments gibt es verlässliche Kongruenzen. In der ALDE-Fraktion der Liberalen, der drittgrößten, beispielsweise sitzen die fünf deutschen FDP-Abgeordneten, die ein gemeinsames Eurozonen-Budget ablehnen, nun mit den 21 Abgeordneten der französischen Präsidentenpartei „La Republique en Marche“ zusammen, deren Chef in Paris genau dies fordert. Erinnern wir uns: Emmanuel Macron war Wirtschaftsminister in der sozialistischen Regierung seines Vorgängers Francois Hollande. Auf dieses Bündnis angesprochen, sagte Lindner vor einigen Monaten im „Handelsblatt“: „Hinsichtlich der Erarbeitung gemeinsamer Inhalte teilen wir gemeinsame Grundwerte. Wir haben auch gemeinsame Vorstellungen, etwa wenn es um eine europäische Armee geht, um die Digitalisierung, Klimaschutz, außenpolitische Sicherheit und Migration.“ Wirtschaft und Finanzen fehlen in dieser Aufzählung wohl nicht zufällig.

Es ließen sich unzählige weitere Diskrepanzen ähnlicher Art innerhalb der Fraktionen des Europäischen Parlaments aufzeigen. Und diese sind im Verlauf der Geschichte der EU und der gemeinsamen Wahlen in den vergangenen 40 Jahren nicht weniger, sondern wohl eher mehr geworden.

Am Ende bleibt das Fazit: Die Europäer haben entscheiden, dass sie grundsätzlich zusammengehören und zusammenbleiben wollen. Das ist sehr erfreulich und beruhigend. Aber sie haben zugleich eine weitere Botschaft deutlich gemacht: nämlich dass sie in fast allen Fragen, die über dieses Grundsätzliche hinausgehen, nicht nur unterschiedlicher Ansicht sind, sondern noch nicht einmal alle dieselben Fragen stellen. Von den Antworten ganz zu schweigen.

Es gibt, so muss man also diese Wahlen realpolitisch interpretieren, nicht das, was nach aller historischer Erfahrung Voraussetzung für die „Vereinigten Staaten von Europa“ oder eine „europäische Republik“ wäre: eine gemeinsame politische Öffentlichkeit, in der Willensbildung stattfindet. Das ist keine Katastrophe, sondern nüchterne Wirklichkeit. Wer die EU ernsthaft reformieren und zukunftsfest machen will, sollte diese Wirklichkeit nicht ignorieren.

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