Anders gesagt
Flüchtlinge aus Mali auf der Durchreise in Timbuktu. Die Sahara, möglicherweise Libyen, liegen noch vor ihnen. Quelle: imago images

Die Legende vom allmächtigen Norden und ohnmächtigen Süden

Ferdinand Knauß Quelle: Frank Beer für WirtschaftsWoche
Ferdinand Knauß Reporter, Redakteur Politik WirtschaftsWoche Online Zur Kolumnen-Übersicht: Anders gesagt

Der Schriftsteller Ilija Trojanow exerziert die ganze Widersprüchlichkeit des herrschenden Nord-Süd-Diskurses vor: Alle Schuld dem Norden, null Selbstverantwortung für den Süden. So lebt der Kolonialismus fort.

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Ilja Trojanow ist ein erfolgreicher, mit Preisen überschütteter Schriftsteller. Ein guter Erzähler, fraglos. Vielleicht kennen Sie seinen bekannten und lesenswerten Roman „Der Weltensammler“. Aber Schriftsteller, die gut erzählen und sich außerdem glänzend selbst vermarkten können, müssen nicht unbedingt besonders gute politische Beobachter oder Analysten des Weltgeschehens sein. Trojanow als politischer Autor ist eher interessant als typisches Sprachrohr dessen, was man vielleicht mit Hegel den „Weltgeist“ der Gegenwart nennen könnte. Und er zeigt selbst die ganze Inkonsequenz und innere Widersprüchlichkeit dieses Geistes.

Trojanows Thema, nicht nur im „Weltensammler“, ist die transkulturelle Identität, die kulturelle Hybridisierung der Moderne. Er schreibt in seinen eigenen Worten „Literatur der selbstbestimmten Wurzeln“. Dies praktiziert er in seinem eigenen Leben: Geboren 1965 als Bulgare, dann 1971 mit den Eltern als politische Flüchtlinge nach Deutschland gekommen, allerdings zum Teil in Nairobi/Kenia aufgewachsen, später in Paris gelebt, einen auf Afrika spezialisierten Verlag gegründet, einige Jahre in Mumbai/Indien und Kapstadt/Südafrika gelebt, derzeit in Wien. Wenn man die Menschen wie David Goodhart in „Somewheres“ und „Anywheres“ aufteilt, dürfte er zu letzteren gehören.

Trojanow hat im Zusammenhang mit seinem Weltensammler einmal gesagt: „Mit dem Nationalstaat löst sich auch das Denken in binären oppositionellen Mustern auf.“ In seinem gemeinsam mit Ranjit Hoskoté verfassten Essay „Kampfabsage“ spricht er vom „Zusammenfließen der Kulturen“. Sehr viele Menschen, erst recht solche in gesellschaftlich hervorgehobenen Positionen und vor allem solche mit sogenannter „höherer Bildung“ durch das Studium einer Geisteswissenschaft werden zustimmen: „Othering“, also die trennende „Konstruktion“ von „wir“ und „die anderen“, ist demnach Ursache fast allen Übels, weswegen dem Nationalstaat als Ergebnis einer solchen Konstruktion nicht nachzutrauern, sondern sein Verschwinden herbeizuführen sei.

Ilja Trojanow ist ein preisgekrönter Schriftsteller und begnadeter Erzähler. Aber trifft seine politische Analyse zu? Quelle: imago images

Ebendieser Trojanow hat nun einen in der FAZ veröffentlichten „Brief an Europa“ geschrieben, der die ganze Widersprüchlichkeit dieses – im gegenwärtigen Diskurs dominierenden – Postulats von der Auflösung der „binären oppositionellen Muster“ und vom „Zusammenfließen der Kulturen“ offenbart.

In diesem Text kommt ziemlich oft das Wörtchen „wir“ vor und auch die „anderen“. Vom Zusammenfließen unterschiedlicher Kulturen ist hier keine Rede: Wir sind die Europäer, die anderen sind konkret die Bewohner Afrikas, ob dort oder auf dem Weg hierher. Dieser glänzend formulierte Vortrag will eine Schizophrenie-Diagnose sein: „Wir Europäer haben Mr. Hyde in uns“, lautet die Überschrift in der FAZ. So wie in R.L. Stevensons berühmter Erzählung seien „wir“ bei Tageslicht gute, ehrbare Menschen, während wir heimlich Übles anrichten. Konkretes Beispiel: Die Korruptionsmilliarden aus Afrika werden in Europa angelegt: „Die anderen klauen, wir hehlen.“

Die Korruption in Afrika und auch die Verletzung von Menschenrechten in Libyen zum Beispiel erscheinen in diesem Text – und diese Interpretation ist eben keine Ausnahme, sondern eher Regel im gegenwärtigen Diskurs – als direkte Folgen europäischen Handelns. Mr. Hyde, also wir Europäer, wütet in den Häusern seiner Mitbürger, der Afrikaner.

In diesem Text, wie in einem Großteil des Diskurses über Migration und das Verhältnis zwischen globalem Norden (bzw. dem früher so genannten „Westen“) und dem globalen Süden, verschwimmt der Unterschied zwischen Handeln und Nicht-Handeln. Das Handeln der Afrikaner oder Libyer ist in dieser Sichtweise eigentlich kein wirkliches, eigenes Handeln, sondern unvermeidliche Folge des Nicht-Handelns der Europäer. „Wenn also Flüchtlinge unter schrecklichen Bedingungen in Libyen leiden und sterben, geschieht dies als unmittelbare Folge einer gezielten EU-Politik“, schreibt Trojanow. Die libyschen Machthaber? Sie kommen in Trojanows Text gar nicht vor. Das Leid „geschieht“ eben. Der Wüterich, der Hyde, sind nicht Libyer, sondern „wir“. Wir könnten es schließlich verhindern – meint Trojanow.

Verantwortung tragen nur die Bewohner des Nordens?

Wir sind auch am wirtschaftlichen Elend in Afrika schuld. Schließlich habe seine Tochter in der Schule gelernt, „dass ein wohlhabender Schweizer so viel verbraucht, wie ein ganzes afrikanisches Dorf.“ Das sei „parasitäres, asoziales Verhalten“. Dass allerdings ein Schweizer im Schnitt ökonomisch mindestens so produktiv ist, wie ein paar afrikanische Dörfer zusammen, bleibt unerwähnt. In der trojanowschen Welt wird Wohlstand nicht erarbeitet, sondern seine gerechte Verteilung durch „eine notwendige Neugestaltung des globalisierten Wirtschafts- und Finanzsystems verhindert.“

Das Weltbild des Weltbürgers offenbart sich in diesem Text als höchst schief. Offenbar ist die Menschheit eben auch in seinen Augen nicht wie behauptet ein Identitäten-Amalgam, sondern streng bipolar: Die Bewohner des globalen Südens (inklusive der schon in den Norden migrierten Menschen solcher Herkunft) sind Inhaber von Menschenrechten. Aber sie tragen keine Verantwortung für eigenes politisches, ökonomisches, soziales Handeln. Diese tragen die Menschen, beziehungsweise Staaten und Unternehmen des globalen Nordens. Die ersten werden also wie unmündige Objekte betrachtet, denen keine Verantwortlichkeit für ihr Handeln zukommt. Umso mehr davon erhalten dagegen der globale Norden zugesprochen, dem man de facto allein Handlungsfähigkeit als Subjekt und damit Verantwortung zuspricht.  

Der Norden ist sogar dann verantwortlich, wenn er nicht verhindert, dass im Süden etwas getan wird. Unausgesprochen zwischen den Zeilen wird dem Norden damit völlige Allmacht und dem Süden Ohnmacht attestiert.

Hier wird eine seltsame Fortsetzung des angeblich doch überwundenen und zutiefst bereuten rassistisch-kolonialistischen Überlegenheitsanspruchs der weißen Völker deutlich! Die im Süden bleiben passives Objekt, der Norden sieht sich weiter als aktives Subjekt. Nur wendet sich dieser Glauben eben ins Negative: Nicht mehr die absolute kulturelle Überlegenheit des Nordens wird behauptet, sondern dessen absolute Verantwortung und Schuld. Der Süden dagegen wird nicht mehr als kulturell zurückgeblieben verachtet, sondern als Mündel betrachtet, für das man sorgen muss, weil es alleine dazu – vermeintlich – nicht in der Lage ist. So wird das Erbe des Kolonialismus mit anderen Vorzeichen weitergelebt.

Eine Begegnung auf Augenhöhe unter sich gegenseitig für voll und ernst Nehmenden ist unter solchen trojanowschen Vorannahmen der einseitigen Verantwortungsverteilung unmöglich. Erschwert wird vor allem die so notwendige wirtschaftliche Entwicklung in Afrika. Denn fürs eigene Handeln allein zur Verantwortung gezogen zu werden, ist eine unabdingbare Voraussetzung dafür. Bleibender Wohlstand wird nur von Menschen geschaffen, die für ihr Tun die Verantwortung tragen – dürfen und müssen. Man nennt das auch Freiheit.

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