Anders gesagt
Der Vorsitzende der Labour-Partei, Jeremy Corbyn, im britischen Unterhaus am 4. September 2019 Quelle: AP

Statt No-Deal droht den Briten nun Sozialismus

Ferdinand Knauß Quelle: Frank Beer für WirtschaftsWoche
Ferdinand Knauß Reporter, Redakteur Politik WirtschaftsWoche Online Zur Kolumnen-Übersicht: Anders gesagt

Vor lauter Hass auf Boris Johnson und Panik angesichts des Brexits, sollte niemand vergessen: Der linke Oppositionsführer Corbyn ist für die Wirtschaft mindestens so gefährlich.

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Es ist eines der bekanntesten Zitate Winston Churchills: „Wir haben das falsche Schwein geschlachtet.“ In Kreisen von Altnazis und Geschichtsrevisionisten ist der Satz, der nach Angaben der International Churchill Society nicht nachweisbar ist, sehr beliebt, da mit dem falschen Schwein angeblich Hitler beziehungsweise das nationalsozialistische Deutschland gemeint sein sollte, und das „richtige“ Stalin und die Sowjetunion gewesen wäre. Abgesehen davon, dass es sicherlich nicht falsch war, Hitlers völkermörderisches Regime zu bekämpfen und zu besiegen, steckt in dem Zitat natürlich insofern ein wahrer Kern, als die Regierungen der Westalliierten vor 1945 (und ein Großteil der westlichen Intellektuellen auch noch Jahrzehnte danach) den verbrecherischen und expansiven Charakter der stalinistischen Sowjetunion nicht sehen oder wahrhaben wollten.

Ein Phänomen, das nicht nur in der großen Weltpolitik immer wieder zu beobachten ist, sondern auch im Privat- oder Berufsleben: Man ist so fokussiert auf eine Gefahr oder einen Gegner, dass man bedingungslos bereit ist, sich zu dessen Vernichtung mit einer jeglichen dritten Person oder Macht blind zu verbünden – ohne dessen mögliche Gefährlichkeit mit einzukalkulieren. Nach dem Motto: Meines Feindes Feind ist mein Freund. Allzu oft ist aber meines Gegners Gegner tatsächlich auch mein Gegner – spätestens, wenn der gemeinsame Feind beseitigt ist. Das klassische Beispiel dafür: Die USA haben in den 1980er Jahren die afghanischen Mudschahiddin geheimdienstlich und mit Waffen gegen die Sowjetunion unterstützt. Das Ergebnis war das islamistische Taliban-Regime und die Stärkung des politischen Islams samt Terror.

Dieses Muster ist möglicherweise auch – glücklicherweise ganz unblutig – im gegenwärtigen Großbritannien auszumachen. Das politische und wirtschaftliche Establishment in London und erst recht in den Hauptstädten des Kontinents freut sich über Johnsons parlamentarische Niederlagen. Man wittert die Chance, nicht nur den No-Deal-Brexit, sondern auch den zum englischen Trump, also nationalistisch-populistischen Bösewicht erklärten Johnson loszuwerden. Der britischen Wirtschaft und allen Briten, die sich vor den ökonomischen Folgen des Brexit, zumal eines solchen ohne Vertrag, fürchten, könnte dadurch aber ein wirtschaftspolitisches Schicksal drohen, das wohl noch radikalere, negative Folgen für sie hat als der nun durch Parlamentsmehrheit ausgeschlossene No-Deal-Brexit: eine von einem radikalen Linken, nämlich Oppositionsführer Jeremy Corbyn geführte Regierung.

Corbyn bezeichnet sich als „demokratischen Sozialisten“ und ist ideologisch und politisch auf dem Stand der Nach-68er-Linken und des Kampfes gegen Margaret Thatcher stehengeblieben. Oskar Lafontaine ist im Vergleich mit ihm ein einsichtiger Mann. Und vor allem hat der Saarländer Geist und Humor, während Corbyn den Charme eines in die Jahre, aber nicht zur Vernunft gekommenen Berufsrevolutionärs verströmt.

Dass Corbyn ein Israel-Hasser ist, könnte schon genügen, um ihn für disqualifiziert zu halten. Dazu kommt seine Forderung nach der wirtschaftspolitischen Rückkehr in die Vor-Thatcher-Epoche: Eisenbahn, Strom-, Gas-, Wasserversorger, die Post und Teile der Stahlindustrie will er wieder verstaatlichen. Größere Unternehmen sollen 10 Prozent ihres Stammkapitals an die Belegschaft vergeben – eine Umverteilung von rund 300 Milliarden Pfund Produktivvermögen. Die Körperschaftssteuer soll um fast 20 Prozent steigen. Mit den höheren Steuereinnahmen sollen Investitionen in Schulen, den berüchtigten Gesundheitsdienst NHS und die Infrastruktur finanziert werden. Höhere Staatsdefizite und -schulden nimmt er gerne in den Kauf.

Corbyn wird sich vor allem über die Ablehnung des Neuwahl-Antrags freuen. Denn in Wahlumfragen liegt er hinter Johnson. Eine YouGov-Umfrage ergab vor drei Wochen, dass die Briten noch eher einen No-Deal-Brexit (48 Prozent) als Corbyn als Premier (35 Prozent) haben wollten.

Aber Corbyn könnte über ein Misstrauensvotum vielleicht auch ohne Neuwahlen an die Macht kommen. Der Groll der 21 Abweichler unter den Konservativen, die Johnson ausgestoßen hat, und die politische Kurzsichtigkeit der Liberaldemokraten und walisischen und schottischen Nationalparteien könnten seine große Chance werden. Man muss jetzt hoffen, dass diese so verantwortungsbewusst sind, nicht die drohende Unsicherheit durch den Brexit gegen die sichere Katastrophe eines marxistischen Premiers einzutauschen. Aussagen wie die der walisischen Abgeordneten Liz Saville-Roberts – „Wir haben jetzt die Möglichkeit, Boris zur Strecke zu bringen, Boris zu brechen, und den Brexit zur Strecke zu bringen“ – zeigen, dass die Affekte gegen Johnson bei manchem Politiker (und erst recht bei Journalisten) maßlos sind.

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