Angst vor dem Polexit „Unsere interne Politik schadet Polen mehr als Corona“

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Polish Deal und Polexit

Was bedeutet das für ausländische Investoren?
Lewiatan war von Anfang an sehr kritisch gegenüber dem Polish Deal. Die Steuerhöhungen auf höhere Gehälter vermindern die Wettbewerbsfähigkeit Polens bei Investments der nächsten Generation. Es gibt kein Risiko für Siemens, Bosch oder Volkswagen, im Gegenteil, die Fabrikarbeiter werden wohl eher billiger werden, weil sie höhere Nettolöhne verdienen. Will man aber höherwertige Dienstleistungen anbieten, schrumpft Polens Wettbewerbsfähigkeit im Vergleich zu unseren Nachbarn. Ingenieursleistungen oder Outsourcing könnten in unsere Nachbarstaaten abwandern wie etwa Rumänien, das jetzt einen großen Wettbewerber für Polen darstellt.

Polen machte sich gerade erst einen Namen im Outsourcing.
Die Outsourcing-Industrie boomt eigentlich. Polen übernimmt hochwertige Dienstleistungen, nicht einfach nur die Eingabe von Rechnungen in ein System. 300.000 Mitarbeiter in Outsourcing-Centren erledigen anspruchsvolle Aufgaben von HR bis hin zum Marketing. Ab Januar gehen die Lohnkosten für 75 bis 80 Prozent dieser Jobs nach oben. Denn diese Menschen verdienen mindestens ein Durchschnittseinkommen – und für die verteuern sich die Kosten für die Arbeitgeber.

Der Ostausschuss der Deutschen Wirtschaft möchte sich nicht einmischen und setzt darauf, dass das polnische Volk in der kommenden Wahl das richtige tut. Kann man sich darauf verlassen? Der Polish Deal hört sich sehr konkret an, die Vorteile der EU sind schwieriger für den Einzelnen zu greifen.
Auch wenn der Premierminister sagt, dass ein Polexit nicht in Frage kommt, spielt er mit sehr gefährlichen Emotionen. Er weckt interne Kräfte in der hiesigen Gesellschaft auf. Innerhalb von zwei Jahren hat sich die Akzeptanz von Migranten hier in Umfragen deutlich verschlechtert. Vielleicht ist er selbst gar nicht mehr an der Macht, und jemand anderes schreit dann nach dem Polexit. So ist das David Cameron in Großbritannien gegangen. Ich hoffe, dass Herr Morawiecki diese historischen Präzedenzfall nicht nachmacht.

Der offene EU-Binnenmarkt ist ein großer Vorteil der EU. Würde Polen wirklich austreten, stünde das Land dann da wie heute die Ukraine?
Ich glaube nicht die Propaganda der Regierung – aber dass es das Projekt „Polexit“ gibt, glaube ich wirklich nicht. Aber die Gefahr, dass der Polexit durch dieses Spiel mit dem Feuer wirklich provoziert wird, ist da. Es reicht, dass die Inflation nicht unter Kontrolle ist, dass das Wirtschaftswachstum nicht stark genug ist – jemand wird Brüssel vorwerfen, dass sie das durch das Blockieren der Coronahilfsmittel ausgelöst haben. Solche Prozesse kann man nicht kontrollieren. Das Staatsfernsehen spielt den Bürgern jeden Abend vor, als hätten wir Krieg – russische Soldaten überqueren die Grenze, Migranten auch, Brüssel attackiert unsere Souveränität und zwingt uns ihren Blickwinkel zum Umgang mit Minoritäten auf. Die große Mehrheit der Polen ist noch für Europa, aber Unfälle passieren in demokratischen Abstimmungsprozessen.

Es gibt nicht viele bedeutende polnische Geschäftsleute, die sich so offen äußern. Warum?
An Polens Börse werden in der Mehrzahl Unternehmen gehandelt, die staatlich kontrolliert sind. 65 Prozent des Bankensystems ist staatlich. In Polen sind die privaten Investitionen abgestürzt. Deshalb springt der Staat ein und investiert in die Infrastruktur. Der Staat ist der größte Kunde in unserem Land. Wir nennen das Repolonisierung. Es ist gut, starke polnische Unternehmen aufzubauen. Der Impuls aktuell ist nur leider, starke polnische Staatsunternehmen aufzubauen. Da haben Sie die Antwort. Ich kann sprechen, weil ich den Verband vertrete. Aber  dass Geschäftsleute sich nicht öffentlich äußern, weil sie in künftigen Ausschreibungen keine Schwierigkeiten haben wollen, kann ich auch verstehen.

Ablehnung der Menschenrechte, Knebelung der Presse: Das Regierungshandeln der rechts-nationalistischen PiS ist verheerend. Die EU muss Polen endlich klar machen, dass es mit seiner Zukunft spielt.
von Alexander Görlach

Was halten Sie von der Rolle des Staats in der polnischen Wirtschaft?
In der Volkswirtschaftslehre spricht man vom Staat als Nachtwächter – er springt ein, wenn es ernst wird. Das hat er in der Coronakrise auch gut getan. Doch niemand würde dem Nachtwächter deshalb den CEO-Job anbieten. Auf den erhebt der polnische Staat aber zunehmend den Anspruch: Dass die staatliche Ölraffinerie Orlen Zeitschriften aufkauft und Windfarmen auf der Ostsee baut, dass für das 5G-Netz ein staatliches Monopol aufgebaut wird – diese Trends besorgen mich. Wir haben noch die großen Ideen für nationale Projekte wie Flughäfen oder zum polnischen Elektroauto – aber sehr optimistisch bin ich nicht. Das Projekt nationaler polnischer Elektrobus wurde gerade eingestellt. Der Aufschwung, den Polen die vergangenen 30 Jahre erlebte, fußte aber auf der Privatwirtschaft. Wenn eine spätere Privatisierung geplant wäre, gäbe es kein Problem. Doch von Privatisierungen war in den vergangenen zehn Jahren nie die Rede.

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