Angst vor dem Polexit „Unsere interne Politik schadet Polen mehr als Corona“

Der Streit Polens mit der EU wird langanhaltendende Schäden für Polens Wirtschaft nach sich ziehen, fürchtet Maciej Witucki, Präsident des Arbeitgeberverbands Konföderation Lewiatan.

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Als Präsident des polnischen Pendants zum BDI vertritt Maciej Witucki 5000 private Arbeitgeber, die insgesamt zwei Millionen polnische Arbeitnehmer beschäftigen. Mitglieder sind auch die deutschen Niederlassungen von Mercedes, VW, Siemens und Bosch. 

WirtschaftsWoche: Herr Witucki, Polen hat die Coronakrise vergleichsweise gut überstanden mit einem Wirtschaftseinbruch von nur 2,7 Prozent. Geht es jetzt schon wieder aufwärts?
Maciej Witucki: Unsere interne Politik schadet Polen mehr als Corona. Das Land war sehr widerstandsfähig, gerade weil es von ganz Europa angetrieben wird. Schon vor der Krise hatte Polen gemeinsam mit Tschechien die zweitniedrigste Arbeitslosenquote Europas. Wir starten also von einem sehr guten Niveau. Dass die deutsche Wirtschaft nach Corona durchstartet, hilft, denn wir sind ganz eng verzahnt. Aber auch mit Frankreich haben wir eine negative Handelsbilanz in Höhe von zwei Milliarden Euro – so viel exportieren wir dorthin. Aber die nationale Politik trübt diesen dynamischen Ausblick ein – nicht zuletzt auch, dass wir jetzt mit zweistelliger Inflation rechnen müssen.

Warum?
Anders als die EZB kann Polens Zentralbank doch ohne Rücksicht auf höher verschuldete Volkswirtschaften die Inflation über Zinserhöhungen schnell eindämmen. Wir rühmen die Souveränität unserer Geldpolitik sehr, aber leider nutzten wir sie nicht aus. Die polnische Zentralbank hat die Inflation, die überall in Europa aufkeimt, ganz besonders schlecht gemanagt. Sie schaute tatenlos zu, wie die Inflation europaweit anschwoll. Erst mit einer Verspätung von sechs Monaten hebt sie die Zinsen an – inzwischen ist die Inflation schon auf sechs Prozent gestiegen. Selbst wenn die Maßnahmen anschlagen, können wir wohl ein Quartal mit einer zweistelligen Inflationsrate nicht vermeiden. Zusätzlich betreibt die polnische Regierung ihre Umverteilungspolitik. Anfang nächsten Jahres sinkt die Steuerquote für die niedrigsten Einkommen – auch das befeuert die Inflation.

Ein EU-Austritt von Polen hätte verheerende Konsequenzen für die polnische Wirtschaft. Trotzdem wagen nur wenige Unternehmenschefs der Polexit-Rhetorik der Regierung zu widersprechen. Maciej Herman gehört zu den Mutigen.
von Nele Husmann

Seit der Jahrtausendwende ist das Land aber doch aufgeblüht – das Bruttoinlandsprodukt hat sich verdreifacht.
Polen war die vergangenen 30 Jahre lang eine absolute Erfolgsgeschichte. Und die ökonomischen Indikatoren sind noch immer positiv.

Wieviel davon ist dem EU-Beitritt 2004 zu verdanken?
Sehr viel. Die EU hat uns wirklich viele Gelder gebracht, die uns geholfen haben, die Infrastruktur aufzubauen und Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes zu erhöhen. Die EU wurde den Polen seit unserem Beitritt wie ein großer, blauer Geldautomat präsentiert, die uns jedes Jahr Euros schickt. Sie ist zu sehr assoziiert mit einem Transfer von Geldern. Die Menschen schätzen die Stabilität, die uns die Mitgliedschaft bringt, nicht genug. Die EU ist auch eine Chance, die natürliche Unordnung des polnischen politischen Lebens in den Griff zu kriegen. Wir haben schon immer unter der geringeren Qualität unseres Rechtssystems gelitten. Als wir damals über den EU-Beitritt abstimmten, war das Argument, dass die EU-Regulierungen unser politisches System stabilisieren, für viele ganz entscheidend. Diese Stabilität bietet ausländischen Investoren aus Deutschland, Frankreich, Italien und den USA, die hier ihre Fabriken bauen, einen zuverlässigen Rahmen. Das fördert die Attraktivität unseres Landes.

Der aktuelle Konflikt mit der EU setzt aber genau diese Sicherheit aufs Spiel.
Das ist genau das Problem. Kurzfristig ist die Streiterei mit Brüssel egal – Polen ist immer noch ein attraktives Land, Deutschland braucht noch immer seinen Nachbarn, der seine Produkte billig zusammenschraubt und dann auch konsumiert. Aber langfristig unterminiert der Konflikt mit der EU die Glaubwürdigkeit unseres Landes. Ein Mitglied unseres Verbands baut ein Hightech-Zentrum, für das Polen als Standort eigentlich in der Endauswahl war, nun in Großbritannien. Sie sagten wörtlich, sie hätten sich jetzt für Großbritannien entschieden, weil ihre Majestät die Queen ihre Meinung weniger oft wechsele als die polnische Regierung. Neue Gesetze werden hier über Nacht verabschiedet. Das hilft nicht, wenn man eine neue Generation von Investments anziehen möchte, die mehr Wert schöpfen. Dazu benötigen wir Rechtsstabilität.

Zeigen sich auch andere Investoren besorgt?
Natürlich, viele verunsichert der Konflikt mit der EU. Auch sorgen sie sich um den Respekt für Minderheiten in Polen. Wir sind im 21. Jahrhundert angekommen. Menschen jagen marginalen Vorteilen hinterher, aber ein verantwortungsvoller Konzern muss immer mehr Kästchen ankreuzen auf seinem Spreadsheet. Da geht es auch um Respekt für Minderheiten und Frauen. Günstige, gut ausgebildete Arbeitskräfte stehen noch immer ganz oben auf der Liste – aber einen guten Ruf gewinnt man nicht über Nacht zurück.

Immer mehr deutsche Unternehmen flüchten ins Industrieparadies Polen – selbst die Anti-EU-Rhetorik schreckt sie nicht. Zu groß sind die Vorteile: Bewerbungen statt Bürgerproteste und Begeisterung statt Bürokratie.
von Nele Husmann

Was halten Sie vom so genannten Polnischen Deal?
Leider hat die polnische Regierung seine Wirtschaftsstrategie um 180 Grad gedreht. Der frühere Plan des Premieministers, den er vor vier Jahren präsentierte, drehte sich um den Ausbau der Fertigung höherwertiger Produkte, Innovation und ein Hochrücken in der Wertschöpfungskette. Der polnische „New Deal“ dagegen fördert die Arbeitsplätze mit den niedrigsten Löhnen und stärkt Polens Rolle als Fließband Europas. Denn der fiskalische Druck wird bei den niedrigsten Einkommen gesenkt und bei höherwertigen Arbeitsplätzen aufgebaut. Die Idee, unsere Ingenieursleistungen und IT-Services zu fördern, wo wir nicht unbedingt wettbewerbsfähig sind, ist passé. Weil diese Leute künftig mehr kosten, sinkt unsere Wettbewerbsfähigkeit sogar noch weiter.

Polish Deal und Polexit

Was bedeutet das für ausländische Investoren?
Lewiatan war von Anfang an sehr kritisch gegenüber dem Polish Deal. Die Steuerhöhungen auf höhere Gehälter vermindern die Wettbewerbsfähigkeit Polens bei Investments der nächsten Generation. Es gibt kein Risiko für Siemens, Bosch oder Volkswagen, im Gegenteil, die Fabrikarbeiter werden wohl eher billiger werden, weil sie höhere Nettolöhne verdienen. Will man aber höherwertige Dienstleistungen anbieten, schrumpft Polens Wettbewerbsfähigkeit im Vergleich zu unseren Nachbarn. Ingenieursleistungen oder Outsourcing könnten in unsere Nachbarstaaten abwandern wie etwa Rumänien, das jetzt einen großen Wettbewerber für Polen darstellt.

Polen machte sich gerade erst einen Namen im Outsourcing.
Die Outsourcing-Industrie boomt eigentlich. Polen übernimmt hochwertige Dienstleistungen, nicht einfach nur die Eingabe von Rechnungen in ein System. 300.000 Mitarbeiter in Outsourcing-Centren erledigen anspruchsvolle Aufgaben von HR bis hin zum Marketing. Ab Januar gehen die Lohnkosten für 75 bis 80 Prozent dieser Jobs nach oben. Denn diese Menschen verdienen mindestens ein Durchschnittseinkommen – und für die verteuern sich die Kosten für die Arbeitgeber.

Der Ostausschuss der Deutschen Wirtschaft möchte sich nicht einmischen und setzt darauf, dass das polnische Volk in der kommenden Wahl das richtige tut. Kann man sich darauf verlassen? Der Polish Deal hört sich sehr konkret an, die Vorteile der EU sind schwieriger für den Einzelnen zu greifen.
Auch wenn der Premierminister sagt, dass ein Polexit nicht in Frage kommt, spielt er mit sehr gefährlichen Emotionen. Er weckt interne Kräfte in der hiesigen Gesellschaft auf. Innerhalb von zwei Jahren hat sich die Akzeptanz von Migranten hier in Umfragen deutlich verschlechtert. Vielleicht ist er selbst gar nicht mehr an der Macht, und jemand anderes schreit dann nach dem Polexit. So ist das David Cameron in Großbritannien gegangen. Ich hoffe, dass Herr Morawiecki diese historischen Präzedenzfall nicht nachmacht.

Der offene EU-Binnenmarkt ist ein großer Vorteil der EU. Würde Polen wirklich austreten, stünde das Land dann da wie heute die Ukraine?
Ich glaube nicht die Propaganda der Regierung – aber dass es das Projekt „Polexit“ gibt, glaube ich wirklich nicht. Aber die Gefahr, dass der Polexit durch dieses Spiel mit dem Feuer wirklich provoziert wird, ist da. Es reicht, dass die Inflation nicht unter Kontrolle ist, dass das Wirtschaftswachstum nicht stark genug ist – jemand wird Brüssel vorwerfen, dass sie das durch das Blockieren der Coronahilfsmittel ausgelöst haben. Solche Prozesse kann man nicht kontrollieren. Das Staatsfernsehen spielt den Bürgern jeden Abend vor, als hätten wir Krieg – russische Soldaten überqueren die Grenze, Migranten auch, Brüssel attackiert unsere Souveränität und zwingt uns ihren Blickwinkel zum Umgang mit Minoritäten auf. Die große Mehrheit der Polen ist noch für Europa, aber Unfälle passieren in demokratischen Abstimmungsprozessen.

Es gibt nicht viele bedeutende polnische Geschäftsleute, die sich so offen äußern. Warum?
An Polens Börse werden in der Mehrzahl Unternehmen gehandelt, die staatlich kontrolliert sind. 65 Prozent des Bankensystems ist staatlich. In Polen sind die privaten Investitionen abgestürzt. Deshalb springt der Staat ein und investiert in die Infrastruktur. Der Staat ist der größte Kunde in unserem Land. Wir nennen das Repolonisierung. Es ist gut, starke polnische Unternehmen aufzubauen. Der Impuls aktuell ist nur leider, starke polnische Staatsunternehmen aufzubauen. Da haben Sie die Antwort. Ich kann sprechen, weil ich den Verband vertrete. Aber  dass Geschäftsleute sich nicht öffentlich äußern, weil sie in künftigen Ausschreibungen keine Schwierigkeiten haben wollen, kann ich auch verstehen.

Ablehnung der Menschenrechte, Knebelung der Presse: Das Regierungshandeln der rechts-nationalistischen PiS ist verheerend. Die EU muss Polen endlich klar machen, dass es mit seiner Zukunft spielt.
von Alexander Görlach

Was halten Sie von der Rolle des Staats in der polnischen Wirtschaft?
In der Volkswirtschaftslehre spricht man vom Staat als Nachtwächter – er springt ein, wenn es ernst wird. Das hat er in der Coronakrise auch gut getan. Doch niemand würde dem Nachtwächter deshalb den CEO-Job anbieten. Auf den erhebt der polnische Staat aber zunehmend den Anspruch: Dass die staatliche Ölraffinerie Orlen Zeitschriften aufkauft und Windfarmen auf der Ostsee baut, dass für das 5G-Netz ein staatliches Monopol aufgebaut wird – diese Trends besorgen mich. Wir haben noch die großen Ideen für nationale Projekte wie Flughäfen oder zum polnischen Elektroauto – aber sehr optimistisch bin ich nicht. Das Projekt nationaler polnischer Elektrobus wurde gerade eingestellt. Der Aufschwung, den Polen die vergangenen 30 Jahre erlebte, fußte aber auf der Privatwirtschaft. Wenn eine spätere Privatisierung geplant wäre, gäbe es kein Problem. Doch von Privatisierungen war in den vergangenen zehn Jahren nie die Rede.

„Das grundlegende Problem ist unsere instabile Gesetzgebung“

Wie reagiert die polnische Bevölkerung auf die Strafen der EU?
Die große Mehrheit der Polen bleibt pro-europäisch. Aber man muss auch verstehen: Die Solidarnosc-Bewegung startete nicht, weil die Menschen sich in ihrer Freiheit beschnitten fühlten. Alle Streiks begannen wegen der Preise für Würste, Brot und andere Produkte. Leider sind die Menschen hier sind nicht bereit, die Regierung zu ändern wegen der Diskussionen über das Verfassungsgericht in Warschau. Die meisten Polen verstehen den Ernst der Lage nicht. Ein potenzieller Wandel hierzulande würde angetrieben von Inflation und wirtschaftlichen Problemen.

Kann sich alles noch in Wohlgefallen auflösen?
Das Geld wird schon noch in Polen ankommen. Das Problem ist letztlich auch, dass Europa nur halb gebaut ist. Die Vision, die Integration weiter voranzutreiben, ist da, wurde aber nie umgesetzt. Die Rechtskörper sind nur halb gebaut, das Parlament ist nicht verbunden mit der Kommission. Ich bin kein Rechtsanwalt, aber Morawiecki mag Recht haben, das die EU nicht-existierende Mechanismen benutzt. Aktuell handelt es sich ja nicht um einen Bann der Gelder, sondern lediglich um eine Verzögerung. Leider wird die EU da Opfer ihres eigenen, unfertigen Gründungsprozesses. Das macht die EU anfällig für die Morawiecki-Regierung hier oder die Orban-Regierung in Ungarn. Das ist die Lektion für Europa.

Wird die polnische Regierung die Reform des Justizsystems zurücknehmen?
Das wäre das beste Szenario. Das grundlegende Problem ist unsere instabile Gesetzgebung. Neue Gesetze werden über Nacht verabschiedet. Als wir zum ersten Mal von der sogenannten Justizreform hörten, kannten wir kein Projekt zu dem Thema – obwohl es sich um eine komplette Neustrukturierung der Justiz in einem Land mit 38 Millionen Einwohnern handelt. Eine Reform wird heute dem Parlament präsentiert und morgen schon verabschiedet. Das grundsätzliche Problem bleibt: Es ist ungewiss, ob die Qualität der nächsten Justizreform auch nur ein Quäntchen besser wäre als die der jetzigen.

Wie spielt die Entscheidung des Verfassungsgerichts, dass das polnische Recht auf alle Fälle vor europäischen Recht kommt, da rein?
Sie ist ein Risiko. Die Prioritäten für das Geld aus Brüssel sind laut Coronapakt Umweltschutz oder Digitalisierung. Sobald wir das Geld haben, kann die polnische Regierung entscheiden, dass sie das Geld lieber ausgibt für Straßenbau oder Flughäfen. Das ist die Angst in Brüssel.

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Die Destabilisierung der EU spielt ja in Putins Karten. Eigentlich steht Polen Russland ja argwöhnisch gegenüber.
Russland ist eine ernstzunehmende Bedrohung für Polens Souveränität. Zugleich aber destabilisieren wir das europäische Konstrukt und spielen so in Russlands Mannschaft mit. Ich glaube nicht, dass Wladimir Putin jeden Morgen mit einer Idee aufwacht, wie er Polen destabilisieren kann. Das gilt auch für die hybriden Aktionen an Polens Grenzen – die zahlen jetzt positiv ein auf die Popularität unserer jetzigen Regierung. Seit unsere Regierung an den Grenzen ernst macht, wird sie immer beliebter. Und Belarus wird nicht aufhören, Migranten an unsere Grenzen zu schicken.

Mehr zum Thema: Deutsche Unternehmen brauchen Raum, wo sie schnell und unbürokratisch expandieren können – Polen braucht dringend mehr Steuereinnahmen, um den „Polish Deal“ zu finanzieren. Ein perfektes Match – daran ändern auch die politischen Spannungen nichts, findet Polen-Expertin Ella Grünefeld.

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