Für die Kläger ist es ein klarer Fall: Mit ihrem Aufkaufprogramm von Staatsanleihen verstößt die Europäische Zentralbank (EZB) ihrer Auffassung nach gegen EU-Recht. Weil die EZB aber nicht verklagt werden kann, zogen Kritiker der geldpolitischen Lockerung („Quantitative Easing“) gegen Bundestag und Bundesregierung vor das Bundesverfassungsgericht. Berlin habe die EZB gewähren lassen, so das Argument. Das oberste deutsche Gericht hat im vergangenen Sommer Sympathie für die Argumentation durchblicken lassen und dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) mehrere Fragen rund um die EZB-Anleihekäufe zur Klärung vorgelegt.
Bei der Anhörung in Luxemburg am heutigen Dienstag kam es zum erwarteten Schlagabtausch. Die Kläger, darunter eine Gruppe um den einstigen AfD-Vorsitzenden Bernd Lucke sowie den CSU-Politiker Peter Gauweiler legten detailliert dar, warum ihrer Meinung nach die EZB längst das Terrain der Geldpolitik verlassen hat und Wirtschaftspolitik betreibt, wofür sie keine demokratische Legitimation besitzt. EU-Kommission und die EZB selbst stellten den massiven Aufkauf von Staatsanleihen dagegen als legitimes Instrument der Geldpolitik dar.
Die Prozessvertreterin der EZB verglich die Notenbank der Eurozone mit einem Schleusenwärter, der in ungewöhnlichen Zeiten zu ungewöhnlichen Mitteln greifen müsse. „Seit dem Beginn der Finanzkrise 2008 hat die EZB die Wehre gezogen, um im Interesse aller gegenzusteuern“, so Karen Kaiser aus der Rechtsabteilung der EZB. „Einige dieser Wehre waren noch nie benutzt worden, andere wurden weiter geöffnet denn je.“ Joachim Starbatty, Euroskeptiker der ersten Stunde und Mitkläger im Lucke-Camp, kritisierte das Bild der geregelten Flussläufe auf einer Pressekonferenz der EKR-Fraktion: „Die EZB hat einen Stausee eröffnet.“
Unstrittig ist, dass die EZB seit Beginn des Aufkaufprogramms Anleihen im Wert von mehr als 2000 Milliarden Euro aufgekauft hat. Für die Kläger hat die EZB die Anreize zu guter Haushaltsführung zerstört, weil EU-Mitgliedsstaaten eine „faktische Gewissheit“ haben, Abnehmer für ihre Anleihen zu finden. „Kein einziger Mitgliedsstaat ist mehr auf den Kapitalmarkt angewiesen“, argumentiert Luckes Prozessbevollmächtigter Hans-Detlef Horn. Die EZB weist dies entschieden zurück. Zahlen wonach die EZB die Anleihen längst nicht mehr analog zum Kapitalschlüssel der Mitgliedsstaaten kaufe, wies die EZB ebenso zurück: „Die Zahlen sind falsch“, so die Prozessvertreterin.
Freilich kommen unabhängige Beobachter zu dem Schluss, dass die EZB schon seit geraumer Zeit das eigene Ziel deutlich verfehlt, die Anleihekäufe nach EZB-Kapitalschlüssel zu steuern. „Weil das Material von niedrig verschuldeten Euro-Staaten knapp geworden ist, muss sie deutlich stärker in höher verschuldete Staaten ausweichen“, beobachtet Friedrich Heilmann vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim. Für Länder wie Österreich, Belgien, Spanien, Italien und Frankreich liegen demnach die Bestände (Stand Juni 2018) bereits zwischen 3,7 und 4,9 Prozent über dem Wert, der dem EZB-Kapitalschlüssel entsprechen würde. Am größten sei die relative Abweichung für Italien. In absoluter Betrachtung hält die EZB Stand Juni 2018 Heinemann zufolge 16,2 Milliarden Euro mehr an italienischen Anleihen, als dies dem EZB- Kapitalschlüssel entspräche.
Der EuGH will zügig über das Thema entscheiden, aber Tempo ist bei juristischen Streitfragen relativ. Bis das Bundesverfassungsgericht auf Basis der Luxemburger Vorabentscheidung ein Urteil fällt, wird wohl ein ganzes Jahr vergehen. Es ist unwahrscheinlich, dass der EuGH das Kaufprogramm grundsätzlich in Frage stellen wird. Die EZB hat bereits angekündigt, dass sie das Programm zum Jahresende auslaufen lassen wird, wobei dadurch der Bestand an aufgekauften Anleihen noch nicht erheblich sinken wird. Für Ökonom Heinemann ist es wichtig, dass der EuGH der EZB bei der Neuauflage in der nächsten Krise Grenzen setzen wird. Etwa indem er verhindert, dass die EZB die bisherige Obergrenze aufweicht, nach der nur 33 Prozent einer Emission aufgekauft werden kann.
Die Bundesregierung hat in ihrer Stellungnahme sehr deutlich gemacht, dass sie eine Verlustteilung absolut ablehnt, sollten nationale Notenbanken bei dem Kaufprogramm Verluste erleiden. Selbst wenn der EuGH einen solchen Haftungsausschluss beschließen sollte, würde der nur auf dem Papier stehen. Wer sonst außer den Mitgliedsstaaten sollte dafür einstehen, wenn ein Land wie Italien in Schwierigkeiten geriete?