Arbeitszeit-Erfassung Vorbild Spanien? Zeiterfassung eingeführt, Menschen unzufrieden

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Das EuGH-Urteil zu Arbeitszeiten hat vielschichtige Konsequenzen

„Das macht die Sache hier jetzt nicht einfacher für mich“, sagt der Mann, der anonym bleiben möchte und an einer Plastikflasche mit Mineralwasser nippt. Wenn es um arbeitsrechtliche Angelegenheiten geht, ducken sich Kleinunternehmer in Spanien gerne ab. Sie fürchten, dass ihnen das staatliche Korsett jede Flexibilität raubt, die sie dringend benötigen, um ihre Geschäfte am Leben zu halten. Dabei bilden die kleinen Firmen das Rückgrat der spanischen Wirtschaft. Seit der Finanzkrise 2008 haben viele Unternehmer mit guten Ideen und manchmal mit dem Mut der Verzweiflung neue Arbeitsplätze geschaffen für viele derer, die nach dem Totalversagen der Banken ohne Perspektive dastanden, weil tausende Firmen pleite und mit ihnen Millionen von Jobs den Bach hinunter gingen.

Das Resultat aus dieser Zäsur war eine neue Gewichtung der volkswirtschaftlichen Bedeutung kleinerer Betriebe. Die OECD registrierte im Jahr 2015 einen Anteil von 99,9 Prozent aller Firmen, die weniger als 250 Mitarbeiter beschäftigten. 19 von 20 Firmen in Spanien hatten nicht einmal zehn Mitarbeiter. Bei diesen 95 Prozent der Firmen, zu denen eben auch die unzähligen Bars und Restaurants der Tourismus-Industrie gehören, stehen über acht Millionen Beschäftigte in Lohn und Brot. Wenn viele davon schließen müssten, weil sie von den laufenden Kosten erdrückt würden, könnte die Arbeitslosenzahl wieder drastisch in die Höhe schnellen. Sie liegt ohnehin noch immer deutlich über dem EU-Durchschnitt.

Spanien ist jetzt so etwas wie das europäische Versuchslabor für ein Gesetz, das bald die gesamte EU umsetzen muss. Die Konsequenzen des Luxemburger Urteils dürften vielschichtig sein. Die Vertrauensbasis zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern könnte in vielen Fällen auf eine harte Probe gestellt werden, wenn Produktivität und Arbeitszeiterfassung nicht mehr im Einklang stehen, nachdem sie jahrelang zuvor zu aller Zufriedenheit aufgegangen war. Auch Mitarbeiter im Außendienst könnten in Erklärungsnot geraten, wenn sie mehr Zeit auf der Autobahn verbringen als bei Kunden.

In Deutschland könnten viele Beschäftigte, die zwangsweise einem Zweitjob nachgehen, in finanzielle Schwierigkeiten geraten, wenn sie die maximal zulässige Höchstarbeitszeit von 48 Stunden pro Woche überschreiten. Und am Ende bleibt die Frage, ob stille Abmachungen zwischen Chef und Angestelltem durch ein solche Gesetzgebung unterbunden werden können, wenn beide überzeugt sind, dass ein flexible Handhabe von Arbeitszeiten und Verträgen die beste Lösung ist.

Der deutsche Wirt genehmigt sich inzwischen eine Schale Nachos samt mexikanischer Salsa als kleinen Mittagssnack. „Mir wird jetzt sogar die Möglichkeit genommen, meine Leute so einzusetzen, wie ich sie eigentlich benötige“, sagt er. Zum Beispiel müssen Arbeitnehmer dem Gesetz nach schon lange zwei Tage am Stück frei bekommen, ehe sie wieder zum Dienst erscheinen. Doch besonders in der Gastronomie kommt es vor, dass Tage mit weniger Betrieb nicht zwingend hintereinander folgen. Bislang war es kein Problem, das Gesetz zu umfahren und Mitarbeiter nach Bedarf einzusetzen. Mit der Arbeitszeiterfassung begeben sich die Gastwirte fortan auf dünnes Eis.

Die Laune lässt sich der Barbesitzer allerdings nicht verderben. „So wie ich das Land kennen gelernt habe, wird sich wahrscheinlich kein Mensch darum kümmern, was in irgendwelchen Gesetzen steht. Bevor das akut wird, vergeht noch eine Menge Zeit.“

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