Arbeitszeit-Erfassung Vorbild Spanien? Zeiterfassung eingeführt, Menschen unzufrieden

Die Arbeitszeit per Stechuhr zu erfassen, erschien vielen zuletzt eher wie ein Relikt aus der Vergangenheit Quelle: imago images

Der Europäische Gerichtshof verdonnert Arbeitgeber zum exakten Nachweis der Arbeitszeiten ihrer Angestellten. In Spanien gilt das schon – und die Kritik ist verheerend.

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Der Bauunternehmer Alfonso Fernandéz sitzt in seinem Wagen und fährt mit der Abendsonne im Rücken gemütlich die Küstenstraße entlang, die vom spanischen Marbella in Richtung Málaga führt. Er spricht langsam und deutlich, weil sonst die Freisprechanlage seine Worte verschluckt. „Ineffizient ist das richtige Wort für dieses Gesetz“. Fernandéz verkneift es sich, ein anderes Adjektiv zu benutzen, das ihm eigentlich auf der Zunge brennt. Eines, das seinen Ärger über die Einführung des seit Sonntag geltenden Dekrets zur Arbeitszeiterfassung deutlicher zum Ausdruck bringen würde.

Der 33-Jährige hat vor ein paar Jahren das Geschäft seines Vaters übernommen. Zuverlässigkeit war dessen höchster Grundsatz. Der Junior macht es ihm nach. Er beschäftigt 15 Mitarbeiter. Die Bestimmungen in der Baubranche sind in Spanien sehr streng. 40 Arbeitsstunden pro Woche sind schon lange das Maximum für die Angestellten. Und bislang fanden Fernandéz und seine Leute immer einen Weg, mögliche Mehrarbeit angemessen auszugleichen. Einfach, unbürokratisch, vertrauensvoll. Seit Sonntag ist alles viel komplizierter. „Wir müssen jetzt jede Stunde exakt dokumentieren und gegenzeichnen lassen. Das kostet uns viel Zeit und Geld“, berichtet er.

Kaum hatte die sozialistische Minderheitsregierung vor rund zwei Monaten das Dekret mit Gesetzeskraft erlassen, begannen clevere Anbieter damit, den Firmen im Land die nötige Hardware und Software anzudrehen, um den Prozess zu automatisieren. Die Gebühr von monatlich 150 Euro sind für ein Bauunternehmen zwar vergleichsweise gering, doch mindestens ein Mitarbeiter der Firma wird künftig tagtäglich damit beschäftigt sein, alle Arbeitszeiten einzutreiben und von den Mitarbeitern unterschreiben zu lassen. Dieser Aufwand sorgt für den eigentlichen Schaden, weil er Kapazitäten bindet, die anderswo benötigt würden.

Aber es gibt keine Alternative. Bei Lücken in der Dokumentation drohen Strafen zwischen 600 und 6000 Euro. Für kleine Firmen kann das schlimmstenfalls schon das Aus bedeuten, wenn ihre Liquidität bedroht ist. Doch die Unternehmer vermissen immer noch klare Richtlinien seitens der Behörden. „Es gibt bislang überhaupt keine Vorgaben, wann welches Strafmaß greift. Das ist eine reine Interpretationssache der Beamten. Und wer ist auf der Baustelle überhaupt verantwortlich für die Dokumentation? Ich, der meistens gar nicht da ist, oder der Arbeiter selbst“, sagt Fernandéz. Nicht einmal sein Steuerberater kennt Details. „Wir alle wissen nur, was in der Zeitung steht.“

Bei aller Kritik: Mit dem Dekret ist Spanien in dieser Woche seiner Zeit ein Stück voraus. Nachdem es am Sonntag in Kraft getreten war, verpflichtete zwei Tage später der Europäische Gerichtshof in Luxemburg die Arbeitgeber aller EU-Mitgliedstaaten dazu, die Arbeitszeiten von Angestellten minutiös zu erfassen. Ziel ist weniger die Einhaltung der festgelegten Stunden pro Woche als vielmehr die Möglichkeit, mehr geleistete Arbeit im Interesse der Beschäftigten exakt nachhalten zu können. In Spanien erhoffen sich Gewerkschaften davon einen faireren Umgang mit einfachen Angestellten. Umfragen zufolge summierte sich die Zahl der wöchentlich unbezahlten Überstunden im Land zuletzt auf rund 2,6 Millionen.

Andererseits geht es dem Staat um die Eintreibung hinterzogener Steuern und Sozialversicherungsbeiträge. Wer einen Teilzeitvertrag hat, in Wahrheit aber doppelt so viel arbeitet und für die Mehrarbeit schwarz bezahlt wird, der spült dem Staat weniger Einnahmen in die Kasse. Betroffen von diesen Praktiken sind weniger die Angestellten in großen Betrieben, sondern vielmehr jene in kleinen Geschäften, Bars und Restaurants in Spanien. „Vielleicht ergibt dieses Gesetz in der Gastronomie mehr Sinn als bei uns im Bau“, sagt Unternehmer Fernandéz.

Ein deutscher Gastwirt aus dem Rheinland sitzt am Vormittag des gleichen Tages bei strahlendem Maiwetter auf der Terrasse seiner Bar in einem der vielen Touristenorte irgendwo an der Costa del Sol. Die Temperaturen an diesem Frühlingstag gingen in Deutschland vielerorts schon als Hochsommer durch. Auf seinem Laptop hat er das Dokument hochgeladen, das ihm sein Steuerberater zugeschickt hat. „Listado Resumen mensual del registro de jornada (detalle horario)“ steht in Fettschrift darauf und meint die monatliche Zusammenfassung der täglichen Arbeitszeiten, detailliert nach Stunden. Dann folgt eine Tabelle mit 31 Zeilen und jeweils sechs Spalten. Für jeden Tag des Monats eine Zeile.

Das EuGH-Urteil zu Arbeitszeiten hat vielschichtige Konsequenzen

„Das macht die Sache hier jetzt nicht einfacher für mich“, sagt der Mann, der anonym bleiben möchte und an einer Plastikflasche mit Mineralwasser nippt. Wenn es um arbeitsrechtliche Angelegenheiten geht, ducken sich Kleinunternehmer in Spanien gerne ab. Sie fürchten, dass ihnen das staatliche Korsett jede Flexibilität raubt, die sie dringend benötigen, um ihre Geschäfte am Leben zu halten. Dabei bilden die kleinen Firmen das Rückgrat der spanischen Wirtschaft. Seit der Finanzkrise 2008 haben viele Unternehmer mit guten Ideen und manchmal mit dem Mut der Verzweiflung neue Arbeitsplätze geschaffen für viele derer, die nach dem Totalversagen der Banken ohne Perspektive dastanden, weil tausende Firmen pleite und mit ihnen Millionen von Jobs den Bach hinunter gingen.

Das Resultat aus dieser Zäsur war eine neue Gewichtung der volkswirtschaftlichen Bedeutung kleinerer Betriebe. Die OECD registrierte im Jahr 2015 einen Anteil von 99,9 Prozent aller Firmen, die weniger als 250 Mitarbeiter beschäftigten. 19 von 20 Firmen in Spanien hatten nicht einmal zehn Mitarbeiter. Bei diesen 95 Prozent der Firmen, zu denen eben auch die unzähligen Bars und Restaurants der Tourismus-Industrie gehören, stehen über acht Millionen Beschäftigte in Lohn und Brot. Wenn viele davon schließen müssten, weil sie von den laufenden Kosten erdrückt würden, könnte die Arbeitslosenzahl wieder drastisch in die Höhe schnellen. Sie liegt ohnehin noch immer deutlich über dem EU-Durchschnitt.

Spanien ist jetzt so etwas wie das europäische Versuchslabor für ein Gesetz, das bald die gesamte EU umsetzen muss. Die Konsequenzen des Luxemburger Urteils dürften vielschichtig sein. Die Vertrauensbasis zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern könnte in vielen Fällen auf eine harte Probe gestellt werden, wenn Produktivität und Arbeitszeiterfassung nicht mehr im Einklang stehen, nachdem sie jahrelang zuvor zu aller Zufriedenheit aufgegangen war. Auch Mitarbeiter im Außendienst könnten in Erklärungsnot geraten, wenn sie mehr Zeit auf der Autobahn verbringen als bei Kunden.

In Deutschland könnten viele Beschäftigte, die zwangsweise einem Zweitjob nachgehen, in finanzielle Schwierigkeiten geraten, wenn sie die maximal zulässige Höchstarbeitszeit von 48 Stunden pro Woche überschreiten. Und am Ende bleibt die Frage, ob stille Abmachungen zwischen Chef und Angestelltem durch ein solche Gesetzgebung unterbunden werden können, wenn beide überzeugt sind, dass ein flexible Handhabe von Arbeitszeiten und Verträgen die beste Lösung ist.

Der deutsche Wirt genehmigt sich inzwischen eine Schale Nachos samt mexikanischer Salsa als kleinen Mittagssnack. „Mir wird jetzt sogar die Möglichkeit genommen, meine Leute so einzusetzen, wie ich sie eigentlich benötige“, sagt er. Zum Beispiel müssen Arbeitnehmer dem Gesetz nach schon lange zwei Tage am Stück frei bekommen, ehe sie wieder zum Dienst erscheinen. Doch besonders in der Gastronomie kommt es vor, dass Tage mit weniger Betrieb nicht zwingend hintereinander folgen. Bislang war es kein Problem, das Gesetz zu umfahren und Mitarbeiter nach Bedarf einzusetzen. Mit der Arbeitszeiterfassung begeben sich die Gastwirte fortan auf dünnes Eis.

Die Laune lässt sich der Barbesitzer allerdings nicht verderben. „So wie ich das Land kennen gelernt habe, wird sich wahrscheinlich kein Mensch darum kümmern, was in irgendwelchen Gesetzen steht. Bevor das akut wird, vergeht noch eine Menge Zeit.“

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