Außenpolitik Zeitenwende: Wie der Ukraine-Krieg Deutschland verändert hat

Ein ukrainischer Soldat steht in einem Stellungsgraben in Bachmut. Quelle: dpa

Der russische Angriff auf die Ukraine hat die tektonischen Platten deutscher Politik verschoben und das Leben für viele Menschen schwerer gemacht. Gibt es einen Lichtblick? Vielleicht ganz am Ende.

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Um Mitternacht gehen in Berlin die Lichter aus. Schlagartig erlischt dann die Beleuchtung am Brandenburger Tor. Auch der Kölner Dom, der früher bei Dunkelheit wie ein Leuchtturm noch aus dem weit entfernten Umland zu sehen war, ist unsichtbar geworden. In Frankfurt am Main bleiben Römer und Paulskirche finster, in Hamburg der Michel und in Dresden die Frauenkirche. In Heidelberg gehört der Anblick des in die Nacht strahlenden Schlosses der Vergangenheit an. Neuschwanstein wirkt im fahlen Mondlicht wie in ein Gespensterschloss verwandelt.

Das Ende der Illuminierung auch der berühmtesten Wahrzeichen und Touristenattraktionen ist innerhalb Deutschlands eine besonders sichtbare Folge des Ukraine-Kriegs und der dadurch ausgelösten Energiekrise. Wer hätte sich das am Silvesterabend 2021 vorstellen können? Das Land hatte damals gerade eine neue Regierung bekommen. Zum ersten Mal seit 16 Jahren hielt nicht mehr Angela Merkel die Silvesteransprache, sondern Olaf Scholz. Mit gelegentlichem Stirnrunzeln und leicht wiegendem Kopf warb der Neue im Kanzleramt um Unterstützung für einen Umbau von Staat und Wirtschaft hin zu mehr Klimaschutz. Das zweite große Thema war Corona.

Keine zwei Monate später, am 24. Februar 2022, griff Russland die Ukraine an, und drei Tage danach erklärte Scholz im Bundestag: „Wir erleben eine Zeitenwende. Das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor.“

Der Begriff „Zeitenwende“ hat sich durchgesetzt. Historiker Andreas Rödder, zurzeit Gastprofessor an der Johns-Hopkins-Universität in Washington, beobachtet sogar, dass das deutsche Wort in der politischen Debatte in den USA regelmäßig zitiert wird. „Die großen Epochenbrüche sehen aus der Nahperspektive immer unspektakulärer aus als aus der Distanz. Ich bin mir sicher, dass wir erst mit dem gebührenden zeitlichen Abstand in vollem Umfang erkennen werden, dass 2022 unsere Sicht der Welt einschneidend verändert hat“, sagt Rödder der Deutschen Presse-Agentur.

Das „Auenland-Gefühl“ der Merkel-Jahre ist vorbei

Schon jetzt ist deutlich, dass der Krieg die tektonischen Platten deutscher Außen- und Sicherheitspolitik verschoben hat. Das zeigt sich insbesondere bei den Grünen, die sich definitiv vom Pazifismus abgewandt haben. Man denke an den Parteilinken Anton Hofreiter, der im Fernsehen jetzt Waffengattungen auflistet wie einst ein Königlich-Bayerischer Oberlieutenant bei der Lagebesprechung. Die Zeitenwende besteht im Kern aus dem Eingeständnis, dass sich Deutschland vor der großen bösen Außenwelt nicht abschotten kann. Das „Auenland-Gefühl“ der Merkel-Jahre – wie diese Rückzugsmentalität mitunter genannt wurde – ist damit Geschichte.

Das bedeutet allerdings nicht, dass die Richtung deutscher Außenpolitik schon geklärt ist. „Was noch aussteht, ist, von dem Merkelschen Durchwursteln zu einer wirklichen geopolitischen Strategie zu kommen“, meint Rödder. „Wo positionieren sich Deutschland und Europa zwischen den großen Playern USA, China, Indien und Russland?“ Insbesondere die Haltung zu China bleibt diffus: Sollen Wirtschaftsinteressen weiter Vorrang haben oder geht es jetzt darum, Abhängigkeiten von der diktatorisch geführten Weltmacht zu beenden?

Der Krieg hat aber nicht nur die deutsche Politik grundlegend verändert, sondern auch die deutsche Gesellschaft. „Vor einem Jahr hätten es die allermeisten Deutschen, auch Jüngere, wohl ausgeschlossen, dass in ihrer Lebenszeit Städte in der Europäischen Union jemals bombardiert werden könnten“, sagt der Sozialwissenschaftler Gerald Knaus. „Jetzt ist das nicht mehr völlig unrealistisch.“ Der in Berlin lebende Österreicher Knaus, Vordenker der EU-Türkei-Flüchtlingsübereinkunft von 2016, hat sich in der Debatte um Waffenlieferungen für die Ukraine klar positioniert: Er ist unbedingt dafür, auch was Panzer betrifft.

Die Ukrainer sind durch den Krieg existenziell bedroht – dies hat auch in Deutschland eine Welle der Hilfsbereitschaft ausgelöst. Inzwischen aber ist klar, dass der Krieg noch sehr lange dauern wird. Und das setzt viele Bürgerinnen und Bürger in Deutschland unter Druck. Beispiel Energiekosten: „Bisher galt als energiearm, wer mehr als zehn Prozent seines Nettoeinkommens für Haushaltsenergie ausgeben muss“, erläutert der Armutsforscher Christoph Butterwegge. „Das trifft jetzt bis weit in die Mitte der Gesellschaft hinein zu.“ Zusammen mit den schon vorher stark gestiegenen Mieten führe es dazu, dass ein großer Teil der Mieterhaushalte über 40 oder gar 50 Prozent des Einkommens für Wohnen, Heizen und Strom ausgeben müsse.

Deutschland und die EU müssen sich auf eine große Fluchtbewegung einstellen

Mit Entlastungspaketen versucht die Ampel-Koalition, das Schlimmste abzufedern. Aber die Regierung wird das nicht ewig so fortführen können. „Es kommen härtere Jahre, raue Jahre auf uns zu“, warnte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier Ende Oktober und sprach von einer „Epoche im Gegenwind“. Es möge wie Hohn klingen in den Ohren derer, die schon jetzt nicht über die Runden kämen, und doch: „Diese Krise verlangt, dass wir wieder lernen, uns zu bescheiden.“

Zusätzliche Belastungen kündigen sich an: Die Zahl der Flüchtlinge dürfte in diesem Winter steigen. Der Migrationsexperte Gerald Knaus warnt sogar: „Deutschland und die ganze EU müssen sich auf eine Fluchtbewegung einstellen, wie es sie in Europa seit den 1940er-Jahren nicht mehr gegeben hat.“

Dafür sieht er drei Gründe: Erstens die Drohnenangriffe auf ukrainische Stadtzentren, die noch im Sommer relativ sicher schienen. Zweitens die gezielte Zerstörung des ukrainischen Stromnetzes. „Und drittens das ständige Spiel mit der Angst vor Massenvernichtungswaffen.“ Die Drohungen Putins haben nach Einschätzung von Knaus auch das strategische Ziel, einen Flüchtlingsstrom in Gang zu setzen und damit die westlichen Gesellschaften zu destabilisieren. Dies werde im russischen Staatsfernsehen offen von Duma-Abgeordneten und Propagandisten gefordert. „Putin setzt darauf, dass Angst vor Migration seinen rechtspopulistischen Freunden hier im Westen Aufwind verleiht. Damit muss er scheitern“, ist Knaus' Überzeugung.

Gibt es einen Lichtblick? Ganz am Ende vielleicht. So besteht beim Klimaschutz zwar einerseits die große Befürchtung, dass die Menschheitsaufgabe durch die derzeitige Krisenkaskade in den Hintergrund rückt. Andererseits hat die Internationale Energieagentur in Paris festgestellt, dass die Krise die Energiewende auch beschleunigen könne. Der Ausbau der Wind- und Sonnenenergie hat jetzt eine andere Dringlichkeit bekommen. Finanzminister Christian Lindner (FDP) spricht mit Blick auf den russischen Angriffskrieg plötzlich von „Freiheitsenergien“. Um Bremsen beim Ausbau des Ökostroms aus Wind und Sonne zu lösen, hat die Ampel-Koalition ein großes Gesetzespaket auf den Weg gebracht.

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Ermutigend ist sicher auch, dass die Nato und die Europäische Union bisher entschieden und geschlossen gehandelt haben, von wenigen Ausreißern wie dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban einmal abgesehen. Gerald Knaus glaubt: Falls es dem Westen gelingen sollte, die ukrainische Demokratie zu verteidigen, könnte die Zeitenwende am Ende sogar auf eine Wende zum Guten hinauslaufen. „Denn dann leben wir in einem friedlicheren, menschlicheren, sichereren Europa.“ Das wäre eine – dringend benötigte – positive Perspektive. Am Kölner Dom leuchten mittlerweile zumindest die Turmspitzen wieder – nach Aussage des Domkapitels als „dezentes Zeichen der Hoffnung und Zuversicht“.

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