Man könnte es beinahe als staatlich organisiertes Mobbing bezeichnen. Als vergangenes Jahr mitten in der Coronakrise der europäische Wiederaufbaufonds auf dem Tisch lag, waren sich alle einig. Fast alle. Österreich, Schweden, Dänemark und die Niederlande stemmten sich dagegen. Sie wollten zwar befristet Nothilfe leisten, aber keine Schuldenunion durch die Hintertür einführen. Und vor allem wollten sie die Hilfen in Form von rückzahlbaren Krediten und nicht von Zuschüssen vergeben. Prompt wurden sie als die „geizigen Vier“ gebrandmarkt.
Die einst so sparsamen Deutschen schauten weg. Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron hatten sich nämlich längst gefunden. Und so war der 750 Milliarden Euro schwere Wiederaufbaufonds, finanziert mit EU-Anleihen, geboren. Dennoch hat sich der Kampf des Quartetts im Rückblick gelohnt. Das Geld wird nur zum Teil in Form von Zuschüssen fließen.
Kämpfe wie diese prägen die Art und Weise, wie der europäische Stabilitätsgedanke gelebt wird – oder bald beerdigt. Denn auch in der jüngsten Schlacht gibt Frankreich die Richtung vor. Der derzeit ausgesetzte Stabilitäts- und Wachstumspakt soll reformiert werden. Für die Franzosen ist eine Begrenzung der Verschuldung auf 60 Prozent der Wirtschaftsleistung „teilweise obsolet“, wie es ihr Finanzminister Bruno Le Maire kürzlich ausdrückte. Und am liebsten würde er auf Pump finanzierte Industrie- und Klimapolitik gar nicht mehr reinrechnen. Der Beifall aus dem hoch verschuldeten Süden ist ihm sicher.
Doch brechen damit nicht alle Dämme? Wie vertrauenswürdig wäre der Euro dann noch? Was passiert, wenn die EZB inflationsbedingt die Geldpolitik deutlicher straffen muss als heute vorstellbar? Und braucht es diese Summen überhaupt für weiteres Wachstum, wenn es Staaten wie Italien heute schon nicht schaffen, rechtzeitig genügend Projekte für den Wiederaufbaufonds zu skizzieren geschweige denn zu managen?
Die geizigen Vier benötigen also dringend Verstärkung aus Berlin. Das Sondierungspapier von Grünen, SPD und FDP geht schon mal in die richtige Richtung. In den Koalitionsverhandlungen muss nun das knapp gehaltene Bekenntnis zum Pakt konkretisiert – und am Ende mit Christian Lindner als Finanzminister glaubhaft auf europäischer Ebene vertreten werden. Ein bisschen Mobbing kann er ab.
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