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Um das Verhältnis zwischen der Türkei und Europa stand es wohl noch nie so schlecht wie heute. Quelle: imago images

Mehr Champagner, als Putin trinken kann

Beat Balzli
Beat Balzli Ehem. Chefredakteur WirtschaftsWoche Zur Kolumnen-Übersicht: Balzli direkt

Nach der Syrien-Offensive ist Europas Verhältnis zur Türkei endgültig zerrüttet. Spätestens jetzt braucht es einen EU-Plan für einen Neuanfang.

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Volkswagen versucht immerhin, so etwas wie ein Zeichen zu setzen. Wegen der türkischen Offensive in Nordsyrien haben die Wolfsburger ihren Entscheid vertagt, nahe Izmir ein Werk zu bauen. Man blicke mit Sorge auf die Entwicklung, lässt der Konzern verlauten.

Aber das ist dann auch schon das Heftigste, was die Türkei derzeit von Europa zu befürchten hat. Der angekündigte Stopp von Rüstungsexporten gilt als reine Augenwischerei, weil schon lange keine Waffen mehr ins Reich von Recep Tayyip Erdoğan geliefert werden. Brüssel kuscht vor dem Berserker am Bosporus. Seine Drohung, Tausende von Flüchtlingen in Bewegung zu setzen, lässt die gesamte Europäische Union erzittern.

Um das Verhältnis zwischen der Türkei und Resteuropa stand es wohl noch nie so schlecht wie heute. Viele fühlen sich einmal mehr bestätigt in ihrer Ansicht, dass das muslimische Land nicht zum EU-Beitrittskandidaten taugt. Keiner will es mit einem Autokraten zu tun haben, der Menschenrechte und Demokratie mit Füßen tritt.

von Rüdiger Kiani-Kreß, Jürgen Salz, Annina Reimann, Christian Schlesiger

Die Empörung ist völlig berechtigt. Dennoch wird gerne übersehen, dass der Preis für die Entfremdung am Ende sehr hoch ausfallen könnte – gar noch höher als beim Brexit. Es geht hier nicht nur um Märkte und Produktionsstandorte, sondern um die Sicherheit an Europas Außengrenzen – unbezahlbar in diesen Zeiten, in denen sich einstige Verbündete wie die USA gerade in einen Totalausfall verwandeln.

Erdoğan trägt für das Zerwürfnis fast die ganze Verantwortung, aber eben nur fast. Konsequent haben europäische Politiker die Türken am langen Arm verhungern lassen und ihr Regime damit in seinem nationalen Wahn noch größer gemacht. 2006 sahen 70 Prozent der Türken ihr Land als Teil Europas, 2013 waren es noch 46 Prozent, Tendenz weiter sinkend. Vor allem Angela Merkels Angebot einer privilegierten Partnerschaft empfanden sie als Beleidigung. Sie wollten den EU-Beitritt. Der Prozess läuft zwar noch, aber an einen erfolgreichen Abschluss glaubt keiner mehr. Es herrscht Perspektivlosigkeit.

Genau an diesem Punkt braucht es jetzt einen Impuls. Statt vor Erdoğan zu kuschen, muss die EU klar aufzeigen, unter welchen Bedingungen sie sich einen Neustart enger Beziehungen vorstellen kann, von denen beide profitieren. Sonst verliert der Westen das Nato-Mitglied Türkei womöglich für immer – und im Kreml fließt noch mehr Champagner.

Mehr Champagner, als Putin trinken kann. Quelle: Getty Images
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