




Bruce Stokes ist einer jener Amerikaner, die man als Europaversteher bezeichnen darf, ohne eine Beleidigungsklage zu riskieren. Der Umfrageexperte vom renommierten PEW-Institut in Washington ist schon ein Transatlantiker gewesen, als die meisten Deutschen die NSA noch für einen harmlosen Ableger der US-Raumfahrtbehörde hielten.
Doch wenn Stokes in diesen Tagen nach Berlin kommt, wähnt er sich dennoch hinter feindlichen Linien, die Zahlen in seinem Reisegepäck lügen nicht. Kaum ein Land in Europa steht dem Freihandelsabkommen TTIP mit den USA so kritisch gegenüber wie Deutschland, hat PEW errechnet. Nur noch 41 Prozent der Deutschen halten das Projekt für eine gute Sache, vor einem Jahr waren es 13 Prozent mehr. Fast genauso viele, 36 Prozent, nennen das Abkommen gar „schlecht“, ein rasanter Anstieg um elf Punkte.
Die Freihandelsabkommen
Ceta ist die Abkürzung für das Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und Kanada. Es steht für „Comprehensive Economic and Trade Agreement“ (Umfassendes Wirtschafts- und Handelsabkommen). Die technischen Verhandlungen begannen 2009, beendet wurden sie 2014. Am 27. Oktober soll Ceta unterzeichnet werden. Ziel des Abkommens ist es, durch den Wegfall von Zöllen und „nichttarifären“ Handelsbeschränkungen wie unterschiedlichen Standards und Normen das Wirtschaftswachstum anzukurbeln.
Nach Angaben des Bundeswirtschaftsministeriums ist die EU für Kanada nach den USA der zweitwichtigste Handelspartner. Ceta gilt auch als Blaupause für das geplante Freihandelsabkommen der EU mit den USA (TTIP), das den weltgrößten Wirtschaftsraum mit rund 800 Millionen Verbrauchern schaffen würde. Kritiker sehen durch beide Abkommen unter anderem demokratische Grundprinzipien ausgehöhlt.
TTIP ist ein sich in der Verhandlung befindendes Freihandels- und Investitionsabkommen zwischen der Europäischen Union und den USA. Seit Juli 2013 verhandeln Vertreter beider Regierungen geheim – auch die nationalen Parlamente der EU erhalten keine detaillierten Informationen.
In dem Abkommen geht es um Marktzugänge durch den Abbau von Zöllen. Zudem sollen globale Regeln entwickelt werden – etwa zur Vereinheitlichung von Berufszugängen innerhalb der Handelszone. Auch Gesundheitsstandards und Umweltstandards sollen angeglichen werden.
Als Blaupause für das Abkommen gilt CETA.
Zwar weiß Stokes, dass er bloß auslöffeln muss, was seine eigene US-Regierung ihm eingebrockt hat. Wer Freunde behandelt wie Terroristen, mögliche Wirtschaftsspionage inklusive, muss sich nicht wundern, wenn diese Freunde Terror machen.
Dennoch alarmiert zahlreiche Transatlantiker in Berlin und Washington, wie fremd sich zwei der engsten Handelspartner der Welt geworden sind. Sicher, Vertrauen ist eine nötige Geschäftsgrundlage, und das wurde teilweise verletzt. Ständiges Misstrauen hilft aber auch nicht weiter.
Ein näherer Blick auf die PEW-Zahlen offenbart, dass das deutsche Misstrauen weit über die NSA-Empörung hinausreicht. So bewerten ausgerechnet die Bürger einer der exportstärksten Nationen mittlerweile ausländische Investitionen besonders kritisch. Nur 19 Prozent der Bundesbürger begrüßen es, wenn Ausländer deutsche Firmen kaufen. Deutsche Investitionen im Ausland sind also lobenswert, in umgekehrter Richtung aber Teufelszeug?
Was ein Freihandelsabkommen zwischen EU und USA bringt
Die Zölle zwischen den USA und den EU sind bereits niedrig. Sie liegen im Schnitt zwischen fünf und sieben Prozent, sagt der deutsche Außenhandelsverband BGA. Da jedoch jährlich Waren im Wert von mehr als einer halben Billion Euro über den Atlantik hin- und herbewegt werden, kann die Wirtschaft Milliarden sparen. Europäische Chemieunternehmen haben 2010 für Exporte in die Vereinigten Staaten fast 700 Millionen Euro in die US-Staatskasse gezahlt. Umgekehrt führten die USA gut eine Milliarde Euro nach Brüssel ab. Wirtschaftsverbände erwarten durch den Fall der Zollschranken weniger Bürokratie für mittelständische Unternehmen und mehr Geld für Investitionen, etwa in Forschung und Entwicklung.
Die deutsche Wirtschaft verspricht sich Impulse in Milliardenhöhe. "Das Freihandelsabkommen könnte unsere Exporte in die Vereinigten Staaten um jährlich drei bis fünf Milliarden Euro erhöhen", sagt der Außenhandelschef des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Volker Treier. Die Amerikanische Handelskammer in Deutschland (AmCham) rechnet mit einem zusätzlichen Wachstum des Bruttoinlandsproduktes in Höhe von 1,5 Prozent. Viele Unternehmen hoffen zudem darauf, einen besseren Zugang zu öffentlichen Aufträgen in den USA zu bekommen.
Fast unlösbar scheinen die unterschiedlichen Auffassungen zwischen den USA und der EU in Fragen der Landwirtschaft. "Für die Amerikaner sind Hormonfleisch und Genmais kein Problem, für Europäer ist das dagegen ein 'No-Go'", sagt der Geschäftsführer des Außenhandelsverbandes BGA, Jens Nagel. "Da kann man sich auch nicht in der Mitte treffen." Die Handelskammer AmCham empfiehlt daher, dass Thema außen vor zu lassen. "Das Thema Agrar würde die Gespräche nur belasten", sagt AmCham-Ehren-Präsident Fred Irwin. "Deshalb wäre es gut, das beiseite zu schieben."
Bei der Angleichung technischer Standards. "Das fängt bei der Länge der Stoßstangen an und hört beim Krümmungswinkel des Rückspiegels auf", sagt BGA-Experte Nagel. "Hier gibt es seit Jahrzehnten unterschiedliche Standards, die sich nicht in wenigen Jahren angleichen lassen." Die Chemieindustrie fordert, vor allem Umwelt-, Verbraucher- und Gesundheitsschutz stärker aufeinander abzustimmen.
Die deutschen Exporteure warnen davor, aus dem Freihandelsabkommen eine Art Wirtschafts-Nato zulasten anderer Handelspartner zu schmieden. "Uns stört das Gerede um eine Wirtschafts-Nato", sagte der Geschäftsführer des Außenhandelsverbandes BGA, Jens Nagel. "Ein Freihandelsabkommen ist nicht dazu da, sich gegen Dritte abzuschotten nach dem Motto 'Jetzt verbünden wir uns gegen die bösen Chinesen'." In der Politik wird das zum Teil genau andersherum gesehen. "Es bleibt nur noch wenig Zeit, gemeinsam mit den USA Standards zu prägen, bevor Wachstumsmärkte wie China und Indien den Takt angeben", sagte der Geschäftsführer des CDU-Wirtschaftsrats, Thomas Raabe.
Sie können Produkte billiger einkaufen, verspricht beispielsweise der Verband der Automobilindustrie (VDA). "Das würde auch die Kosten eines Autos für den Verbraucher senken", sagt VDA-Präsident Matthias Wissmann. Auch andere Branchen können mit einer Kostensenkung rechnen. Ob sie den Vorteil an ihre Kunden weitergeben oder den eigenen Gewinn damit steigern, bleibt ihnen überlassen. Produkte können außerdem schneller erhältlich sein, wenn sie einheitlich zugelassen werden - etwa wenn die US-Aufsicht FDA ein neues Medikament freigibt, das damit automatischen die Zulassung in den EU erhält. (Quelle: Reuters)
In EU-Kreisen heißt es, der Kampf um TTIP werde in Deutschland entschieden, weil im größten Land Europas auch die Bedenken am größten seien. Diese Sorgen drohen schon für den ersten Kollateralschaden zu sorgen, das Freihandelsabkommen CETA mit Kanada – einem Land, dem selbst der engagierteste Amerika-Kritiker schwerlich Welteroberungstendenzen unterstellen kann. Weil es umstrittene Regeln zum Investorenschutz enthält, könnte das fertige CETA-Vertragswerk, das Kanzlerin Angela Merkel vor Kurzem noch überschwänglich lobte, nun auch auf Druck deutscher Politiker frühestens 2017 in Kraft treten.
Dazu passt, dass die PEW-Zahlen gerade unter jungen Deutschen Beifall für die These dokumentieren, jedes Land solle sich erst einmal um seine eigenen Angelegenheiten kümmern. Es droht eine Generation von Neo-Isolationisten heranzuwachsen, und das prägt natürlich auch die TTIP-Debatte.
Stokes, ein besonnener Mann, kann die deutsche Wut verstehen. Aber er weiß auch, dass Washington glaubt, die kriselnden Europäer bräuchten TTIP mehr als umgekehrt die Amerikaner – und dass Präsident Barack Obama schon den strategischen Schwenk gen Asien vollzieht, wo ein gewaltiges Handelsabkommen kurz vor dem Abschluss steht. Es gibt ein schlichtes Problem mit Isolationismus-Tendenzen, sogar mit verständlichen: Selbst Deutschland kann sie sich schlicht nicht leisten.