Brexit Auf die jungen Briten wird es ankommen

Drei Tage vor dem britischen EU-Referendum rückt das Thema Wirtschaft wieder ins Zentrum der Debatten. Viel wird davon abhängen, ob die jungen Briten, die überwiegend als Befürworter der EU-Mitgliedschaft gelten, zur Wahl gehen.

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Brexit: David Cameron ist drin und Boris Johnson will raus. Quelle: rtr

In Smoking und Abendkleid haben sich die Studenten im Pemberton Building der Universität Durham versammelt. Britischer geht’s kaum. Der Raum ist holzgetäfelt und hat ein Deckengewölbe. Geladen hat die Durham Union Society, der angesehene Debattierclub der Studenten. Punkt 8.30 eröffnet die Präsidentin die Diskussion. Sie stellt das Thema des Abends vor: „Dieses Haus würde die Europäische Union verlassen“. Rechts auf dem Podium drei ältere Herren, darunter ein Lord, die für den Verbleib argumentieren. Links die Brexit-Befürworter: zwei Tory-Politiker und Tom Harwood, der Politik und Internationale Beziehungen studiert. In der Mitte thront auf einem reich verzierten Lehnstuhl die Präsdidentin des Debatierclubs, Kamila Godzinska, die am 23. Juni beim EU-Referendum nicht zur Wahl gehen kann: denn sie ist Polin.

Umfragen zeigen, dass die unter 25-jährigen Briten mit zwei-Drittel-Mehrheit für den Verbleib in der EU eintreten. Bei der Debatte in Durham allerdings führen die Brexit-Befürworter lautstark das Wort. Jack Gilmore zum Beispiel. Gelegentlich nimmt er einen Schluck aus seinem mit einem Union Jack verzierten Flachmann.

Gilmore studiert Buchhaltung; ihn stört an der EU vor allem das Demokratiedefizit. Die Gefahr für Großbritannien, vom Binnenmarkt abgeschnitten zu werden, hält er für übertrieben. Warum sollten die übrigen EU-Staaten Großbritannien denn bestrafen wollen? Schon aus Eigeninteresse sollten sie dem Vereinigten Königreich günstige Handelsbedingungen einräumen. Seine Debattengegner verweisen auf Demokratiedefizite in Großbritannien selbst, die Nachteile des Mehrheitswahlrechts zum Beispiel.

Als Godzinska am Ende zur Abstimmung aufruft, kommt es fast zu einem Patt – so wie im restlichen Großbritannien.  Das tödliche Attentat auf die Labour-Politikerin Jo Cox ließ den Vorsprung der Brexit-Befürworter zusammenschmelzen, die Remain-Kampagne gewinnt an Schwung. Zuvor hatte das Brexit-Lager mit bis zu sechs Punkten in Führung gelegen. Eine Umfrage von YouGov zeigte Remain bei 44 Prozent und Leave bei 43 Prozent, in einer anderen Umfrage im Auftrag des Observer lagen Befürworter und Gegner mit jeweils 44 Prozent gleichauf.

Ältere Euroskeptiker gehen eher zur Wahl

Wenn die Briten am Donnerstag abstimmen, wird viel davon abhängen ob die jungen Briten von ihrem Stimmrecht Gebrauch machen oder nicht. Dagegen könnten so banale Gründe wie das Musikfestival von Glastonbury sprechen und die Abwesenheit vieler Studenten von ihrem Studienort nach den Prüfungen. Die meisten von ihnen stehen an ihrem Studienort im Wahlregister. Analysten glauben, dass eine Wahlbeteiligung von unter 65 Prozent dem Brexit-Lager zum Sieg verhelfen dürfte, weil die älteren – und euroskeptischeren – Briten, wohl eher zur Wahl gehen.

nachdem bislang vor allem die Furcht vor stärkerer Einwanderung durch die EU das Hauptargument der Austrittskampagne war, scheint nun im Endspurt der Debatte die Wirtschaft wichtiger zu werden. Das wäre für die EU-Befürworter ein Plus, glaubt YouGov-Demoskop Anthony Wells: Wie beim schottischen Unabhängigkeitsreferendum im Jahr 2014 setze sich wohl auch diesmal im Endspurt der Kampagne wieder die Präferenz für den Status Quo durch, meint er.

Im Zweiwochenvergleich ist der Anteil derjenigen, die sich im Falle eine Austritts um ihre persönlichen Finanzen sorgen, nun auf rund ein Drittel der Befragten angewachsen – vorher waren es dagegen nur etwas über ein Fünftel. Den Wählern der Labour-Partei kommt hier eine Schlüsselstellung zu: Bisher waren viele von ihnen vor allem auf das Thema Immigration fixiert und hatten deshalb mit dem Austritt geliebäugelt.

Polarisierte Debatte um den Brexit

Die kürzlich ermordete Labour-Abgeordnete Cox hatte leidenschaftlich für den Verbleib Großbritanniens in der EU geworben. Ob der Mord die unentschlossenen Wähler beeinflusst, ist schwer zu sagen. Auf jeden Fall ist nun aber eine Debatte über die Verrohung des Umgangstons im politischen Diskurs entbrannt.

Cox selbst hatte vor einigen Monaten über aggressive Kommentare mit Anti-Immigrations- und Anti-EU-Rhetorik in den sozialen Medien geklagt. Beide Lager hatten sich öffentlich der Lüge bezichtigt.

Am heutigen Montag kommt das Unterhaus zu einer außerordentlichen Sitzung zusammen, um der Verstorbenen seine Ehre zu erweisen. „Ich hoffe, dass wir angesichts des tragischen Todes von Jo künftig eine weniger polarisierende Debatte führen werden“, so Finanzminister George Osborne. UKIP-Chef  Nigel Farage sprach von einer Auswirkung auf alle Beteiligten, machte aber gleichzeitig deutlich, dass die Brexit-Befürworter den größeren Schaden erlitten hätten, denn „bis zu dieser schrecklichen Tragödie“ habe seine Seite von einer guten Dynamik profitiert.  

Kampagne gibt Extremisten ein Forum

Der Attentäter Thomas Mair hatte – so berichteten verschiedene Sonntagszeitungen – offenbar Kontakte in die rechte Szene und war auch Abonnent einer rassistischen Publikation aus Südafrika. Außerdem wurden ihm Verbindungen zur amerikanischen Neonazi-Szene nachgesagt. Als er am Samstag erstmals einem Untersuchungsrichter vorgeführt wurde sagte Mair auf die Frage nach seinem Namen „Tod den Verrätern, Freiheit für Großbritannien“. Gleichzeitig aber heißt es in britischen Medien, Mair habe psychische Probleme gehabt.

Labour-Chef Jeremy Corbyn warnt, die Kampagne der EU-Gegner habe rechtsextremistischen Ansichten ein öffentliches Forum gegeben. Als Beispiel nannte er ein von Farage enthülltes Plakat auf dem unter der Überschrift „Breaking Point, the EU has failed us all“ (in etwa: „Bis zur Belastungsgrenze – die EU hat uns allen geschadet“) eine Schlange von Flüchtlingen an einer Grenze zu sehen war. Auch Finanzminister Osborne kritisierte, das Plakat erinnere ihn an Nazi-Propaganda aus den 30er Jahren.

Premierminister David Cameron stellte sich am Sonntagabend ein letztes Mal den Fragen der Fernsehzuschauer in der BBC. Cameron warb mit bisher ungekannter Leidenschaft für den Verbleib in der EU:  “Wenn wir rausgehen, dann war es das, es gibt keinen Weg zurück“ so der Premier, der sogar den legendären Kriegspremier Winston Churchill für seine Sache bemühte. Cameron warnte, es werde im Falle eines Brexit keine zweite Chance geben, über die Rolle Großbritanniens in der EU zu entscheiden.

Den EU-Kritikern gab er teilweise Recht, mahnte aber auch: „Nur wer am Verhandlungstisch sitzt, kann für Veränderung kämpfen – wer nicht im Zimmer ist, wird nicht gehört“. Wie so oft betonte er aber vor allem die wirtschaftlichen Vorzüge der EU-Mitgliedschaft: Die Dienstleistungen trügen mittlerweile 80 Prozent zur Wertschöpfung bei und „wir verkaufen heute mehr Dienstleistungen an Luxemburg als an ganz Indien. Die Idee, dass wir uns mit einem Austritt aus der EU von unserem wichtigsten Markt abschotten würden, ist wirtschaftlicher Wahnsinn“, beteuerte er.

Wirtschaftsargumente werden wichtiger

Finanzminister Osborne zitierte Expertenschätzungen, dass Brexit das Bruttoinlandsprodukt um fünf bis sechs Prozent schrumpfen lassen werde - „Ich selbst allerdings glaube, es könnte sogar noch schlimmer werden“ – und kündigte für den Fall einen drastischen Sparhaushalt an. Damit hat er nach Ansicht vieler Kommentatoren den Bogen überspannt. Seine düsteren Prognosen könnten eher dem Brexit-Lager Munition liefern, das von einer Einschüchterungskampagne spricht. Schützenhilfe hatte Osborne aber schon von einer Reihe britischer Volkswirte und internationaler Organisationen wie der OECD und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) erhalten.

Der IWF meldete sich am Samstag erneut zu Wort und erklärte, im Falle eines Austritts müsse Großbritannien nicht nur mit den 27 anderen EU-Staaten sondern auch mit rund 60 Nicht-EU-Ländern seine Handelsbeziehungen neu aushandeln, was lange Jahre dauern dürfte.

Viele britischen Medien haben mittlerweile öffentlich Stellung bezogen. So empfehlen der „Telegraph“,  der „Sunday Telegraph“ und die „Sunday Times“, für den Brexit zu stimmen. Auf derselben Linie liegen die Boulevardzeitungen „Sun“, „Daily Mail“ und „Daily Express“. Dagegen sprachen sich die „Times“, der „Guardian“, die „Mail on Sunday“, der „Observer“ und die linken Boulevard-Blätter „Sunday Mirror“ und „Daily Mirror“ für den Verbleib in der EU aus. Überraschenderweise stehen die Murdoch-Zeitungen „Sun“ und „Times“ damit in gegensätzlichen Lagern. Wenig überraschend dagegen plädieren die Wirtschaftsblätter „Financial Times“ und „Economist“ für den EU-Verbleib.

An den Finanzmärkten wird das Referendum mit besonderer Spannung erwartet, die Volatilität hat hier vor allem an den Devisenmärkten erheblich zugenommen. Der Pfundkurs ist ein Gradmesser für die Einschätzung der Märkte ob Remain oder Leave die Nase vorne hat. So hatte das Pfund vor dem Attentat auf Cox gegenüber dem Dollar an Wert eingebüßt,  weil die Devisenhändler auf das Umfrageplus der Brexit-Befürworter reagierten. Seither hat sich der Kurs der britischen Währung aber wieder erholt, was die Zuversicht ausdrückt, Großbritannien werde doch in der EU bleiben.

Nach der Schließung der Wahllokale um 22 Uhr Ortszeit am Donnerstag wird die BBC keine Hochrechnungen veröffentlichen. Deswegen wird es wohl bis Freitagmorgen spannend bleiben. Allerdings haben eine Reihe von Hedgefonds offenbar private Umfragen in Auftrag gegeben. Da viele Devisenhändler die Nacht durchmachen werden und in Asien ohnehin gehandelt wird, könnte die Entwicklung des Pfundkurses also als wichtiger Frühindikator den Austritt oder Verbleib signalisieren.

Auch viele Studenten werden in dieser Nacht lange wach bleiben. Allerdings nicht nur wegen des Referendums, sondern wegen des Glastonbury-Musikfestivalls und den vielen Parties und Bällen, die in britischen Universitätsstädten am Ende des Sommertrimesters gefeiert werden.

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