Im Schlussspurt zum historischen Referendum der Briten über einen EU-Austritt spüren die Brexit-Befürworter Aufwind. 55 Prozent der Briten wollen laut einer Online-Umfrage am 23. Juni für den Austritt stimmen. Lediglich 45 Prozent seien noch für den Verbleib Großbritanniens in der Gemeinschaft, ermittelte das Institut ORB im Auftrag der Londoner Zeitung „The Independent“. „Jetzt hat sich das Blatt gewendet“, kommentiert das linksliberale Blatt.
Eine Umfrage im Auftrag der Sonntagszeitung „Observer“ sieht das europafreundliche Lager mit 44 Prozent noch leicht vor den Austrittsbefürwortern mit 42 Prozent. 13 Prozent der Befragten seien weiterhin unentschlossen.
Premierminister David Cameron warnte die Brexit-Befürworter vor schmerzhaften Kürzungen der Renten und im Gesundheitssektor. Ein Austritt könnte bis 2020 ein „Loch von 40 Milliarden Pfund“ (derzeit 51 Milliarden Euro) in die Staatskasse reißen, sagte er dem „Observer“. Unter diesen Umständen sei fraglich, ob es weiterhin garantierte Rentenerhöhungen und Zuschüsse für das Gesundheitswesen (NHS) geben könne. „Das ist die bittere Realität eines EU-Austritts.“ Der konservative Premier appellierte zudem an seine Landsleute, sich das historische Gewicht ihrer Entscheidung bewusst zu machen.
Die schwierige Beziehung der Briten zu Europa
Die Beziehungen zwischen Großbritannien und der Europäischen Union waren nie einfach. Der konservative britische Premierminister David Cameron will bei einer Wiederwahl 2017 ein Referendum über den Verbleib in der EU ansetzen - und vorher das Verhältnis des Königreichs zu Brüssel neu verhandeln. Geprägt von tiefem Misstrauen gegenüber Europa setzte Großbritannien in der Vergangenheit wiederholt Sonderregeln durch - und steht traditionell mit einem Fuß außerhalb der EU.
Da Großbritannien zwar viel in den EU-Haushalt einzahlte, aber kaum von den milliardenschweren Agrarhilfen profitierte, forderte die britische Premierministerin Margaret Thatcher 1979: „I want my money back!“ („Ich will mein Geld zurück!“) Die „Eiserne Lady“ setzte dann 1984 eine Rabatt-Regelung für ihr Land durch, nach der Großbritannien 66 Prozent seines Nettobeitrags an die EU zurückerhält. Der Rabatt besteht bis heute, obwohl er immer wieder den Unmut anderer EU-Länder erregt, da sie nun den britischen Anteil mittragen müssen. Doch abgeschafft werden kann die Regel nur, wenn London zustimmt.
Wer von Deutschland nach Frankreich, Österreich oder in die Niederlande reist, muss dafür seinen Pass nicht vorzeigen. Großbritannien-Urlauber sollten den Pass jedoch dabei haben: Die Briten haben sich nicht dem Schengen-Abkommen angeschlossen, das den EU-Bürgern Reisefreiheit von Italien bis Norwegen und von Portugal bis Polen garantiert.
Seit der EU-Vertrag von Lissabon im Jahr 2009 in Kraft getreten ist, kann Großbritannien wählen, an welchen Gesetzen im Bereich Inneres und Justiz es sich beteiligt. Zudem erwirkte die britische Regierung den Ausstieg aus 130 Gesetzen aus der Zeit vor dem Lissabon-Vertrag. Im Dezember 2014 stieg London dann bei rund 30 Regelungen wieder ein, darunter beim Europäischen Haftbefehl. Diese „Rosinenpickerei“ nervt im Rest der EU viele.
In der Verteidigungspolitik setzt Großbritannien auf die Nato. Als EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker im März für den Aufbau einer europäischen Armee warb, kam das „No“ aus London postwendend. „Verteidigung ist eine nationale, keine EU-Angelegenheit“, sagte ein Regierungssprecher. Obgleich Großbritannien Ende der 1990er Jahre den Widerstand gegen die Gründung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) aufgab, wacht es darüber, dass die Europäer hier nicht zu weit gehen. So hat London verhindert, dass es ein Militärhauptquartier in Brüssel gibt. EU-Einsätze wie etwa in Mali werden deshalb dezentral aus den Mitgliedstaaten geleitet.
Auch in der Euro-Krise ist die an ihrer Pfund-Währung festhaltende britische Insel ein gutes Stück weiter von der Kern-EU weggedriftet. Mit Sorge wurden in London die mühseligen Arbeiten zur Euro-Rettung beobachtet, zudem fürchtete die britische Regierung Folgen für den Finanzstandort London durch strengere Banken-Regulierung oder eine Finanztransaktionssteuer. Für Empörung in der EU sorgte, dass sich Großbritannien dem Fiskalpakt für mehr Haushaltsdisziplin nicht anschloss.
Der Brexit-Wortführer Nigel Farage sieht Europa dagegen nach dem Votum am 23. Juni am Ende. „Die EU steht vor dem Kollaps“, sagte der Chef der britischen Unabhängigkeitspartei Ukip der italienischen Zeitung „Corriere della Sera“ (Samstag). „Nach uns werden andere nördliche Länder austreten, eins nach dem anderen. Dänemark zuerst, dann die Niederlande, Schweden, Österreich.“ Auch die Südstaaten wie Italien, Griechenland oder Spanien würden laut Farage von einem Brexit profitieren, da der Euro ihre Wirtschaft „zerstöre“ und „eine Waffe für die deutsche Vorherrschaft“ sei.
Experten erwarten Kopf-an-Kopf-Rennen
Dem „Independent“ zufolge deuten die Umfragen im Zeitablauf auf eine Tendenz zur Stärkung des EU-kritischen Lagers. Noch im April hätten nur 51 Prozent für einen Austritt und 49 Prozent für einen Verbleib plädiert, schreibt der „Independent“. Vor einem Jahr habe das Lager der EU-Befürworter sogar noch um zehn Prozentpunkte vorn gelegen.
Darum will Angela Merkel die Briten in der EU halten
Angela Merkel und der britische Premier David Cameron wollen gemeinsam verhindern, dass Brüssel noch mehr Macht bekommt. Der Kampf gegen die EU-Bürokratie eint Berlin und London.
Soll es je eine echte gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU geben, geht das nur mit den Briten. Schließlich sind sie ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat und im Besitz von Atomwaffen.
In der Wirtschaftspolitik hat Merkel mit den Briten mehr gemeinsame liberale Prinzipien als mit dem französischen Sozialisten François Hollande. Auch bei TTIP und Freihandel verbindet Merkel viel mit den britischen Konservativen.
Sollten die Briten austreten, würden in den skandinavischen Ländern und in den Niederlanden ebenfalls die Anti-EU-Strömungen stärker. Und auch in Deutschland bekämen die EU-Gegner Auftrieb.
Ohne die Briten würde der europäische Binnenmarkt kleiner und schwächer – ein Nachteil für die deutschen Unternehmen, die auf der Insel über 120 Milliarden Euro investiert haben, mehr als doppelt so viel wie in Frankreich und China.
Allerdings warnen Experten vor einer Überbewertung derartiger Online-Erhebungen. Sie erwarten seit Monaten ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Bei der Parlamentswahl vor einem Jahr hatten die Demoskopen schwer daneben gelegen.
Der CDU-Europaparlamentarier David McAllister warf Brexit-Befürwortern „vollkommen inakzeptable“ Aussagen vor. „Ein Tiefpunkt war sicherlich, als der frühere Londoner Bürgermeister Boris Johnson die EU in einem Atemzug mit dem Nationalsozialismus Adolf Hitlers genannt hat“, sagte der frühere niedersächsische Ministerpräsident der Deutschen Presse-Agentur in Brüssel. Johnson hatte gesagt, die EU ziele wie der Diktator auf die Schaffung eines Superstaates.