Brexit-Chaos auf der Insel Den Briten droht das „No-Deal-Szenario“

Flip-Flops mit dem Union Jack Quelle: Bloomberg

Streit und Rücktrittsdrohungen spalten die Regierung von Premierministerin May, die Resignation und Wut der Wirtschaft wächst: Zwei Jahre nach dem Referendum und zehn Monate vor dem EU-Austritt trudelt Großbritannien, Deutschlands fünftwichtigster Handelspartner, auf einen gefährlichen Brexit zu. Das Parlament könnte einschreiten und das Land noch retten – doch die Chancen dafür stehen schlecht.

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Zum diesjährigen Galadinner hatte die deutsch-britische Industrie- und Handelskammer ihre 200 Gäste an einen symbolträchtigen Ort geladen. Das Renaissance Hotel St. Pancras in London, ein wuchtiger viktorianischer Prachtbau, zeugt von der ehemaligen Macht, dem Reichtum und dem Selbstbewusstsein der Briten: Erbaut während der Industriellen Revolution und der Hochblüte des Empire, als die Sonne im britischen Weltreich nie unterging, erinnert es an die ruhmreiche Vergangenheit des Vereinigten Königreichs. Von der elegant gewölbten Hotelbar fiel der Blick der Gäste im Smoking und Abendkleid dann aber durch die Bogenfenster direkt auf die Moderne: draußen, vom internationalen Bahnhof St. Pancras, fahren die Eurostarzüge in Richtung Brüssel und Paris los. Auf das europäische Festland also, ins Herz der EU. Und für die versammelte Wirtschaftselite gab es an diesem Abend nur ein Thema: die großen, ungelösten Probleme mit dem Brexit.

Denn die Wahrscheinlichkeit eines Scheiterns der Verhandlungen ist zuletzt wieder gestiegen und der Countdown läuft. Ende März 2019 tritt Großbritannien offiziell aus der EU aus. Die bis Ende 2020 angepeilte Übergangsperiode, in der das Land weiterhin im Binnenmarkt und der Zollunion bleiben will, ist zwar prinzipiell vereinbart, wird aber nur Realität, wenn EU und Großbritannien bis Oktober ein umfassendes Abkommen ausgehandelt haben, das anschließend noch von allen übrigen 27 EU-Staaten ratifiziert werden muss. Geschieht das nicht, droht in zehn Monaten ein abrupter Abschied von 40 Jahren Europaverbundenheit mit neuen Zöllen und Handelsbarrieren.

Industrie schlägt Katastrophenalarm

„Armageddon“ titelte jüngst die Sunday Times und malte Horrorszenarien von leeren Supermarktregalen und LKW-Staus am Hafen von Dover. Die Frustration in der Wirtschaft wächst. Inzwischen gehen sogar die ansonsten so zurückhaltenden Unternehmer auf die Barrikaden: Unverblümt forderte Paul Drechsler, der Chef des britischen Industrieverbandes CBI und Gastredner beim Handelskammer-Galadinner: „Unternehmensvertreter, und das betrifft auch die Deutschen, die bisher immer so höflich waren, müssen nun ihre Stimme erheben. Ihre Zeit ist gekommen.“ Großbritannien müsse in der Zollunion bleiben, bis ein anderes praktikables Modell gefunden wurde, forderte er und erklärte: „Ein No-Deal-Szenario birgt die größte Gefahr für uns“.

Pessimistisch sind auch die Vertreter großer europäischer Konzerne, darunter BMW, E.On, BP und Vodafone, die im Rahmen eines Treffens der Lobby-Gruppe European Roundtable of Industrialists (ERT) Ende Mai zu Gesprächen in der 10 Downing Street waren: „Großbritannien ist als Investitionsstandort im Augenblick sehr, sehr unattraktiv (...) wir werden nicht auf der Insel investieren bis wir wissen, was das Ergebnis (der EU-Verhandlungen) ist“, machten sie anschließend Druck. Die gegenwärtige Ungewissheit über die Zukunft sei sehr negativ für das Vereinigte Königreich. Die Manager hätten sehr konkrete Beispiele genannt, warum ein störungsfreier Grenzverkehr für sie von so großer Bedeutung sei, erklärten sie. „Wir brauchen Klarheit und Verlässlichkeit, denn die Zeit wird knapp“. An der Runde nahmen unter anderen BMW-Vorstandschef Harald Krüger, Vodafone-Chef Vittorio Colao sowie die Aufsichtsratschefs von BP und Nestlé teil. Die ERT vertritt Europas 50 größte Industriekonzerne.

Die britische Wirtschaft kritisiert inzwischen, dass man ihr nicht einmal zuhört, entsprechend groß ist der Ärger: „Es gab bisher keinerlei formelle Gespräche über den Inhalt des geplanten Gesetzentwurfes für das Wirtschaftsmodell nach dem Brexit“, poltert einer. „Diese Regierung hat das Vertrauen der Business Community verloren“, so ein anderer. „Die Zeit für weitere Verzögerungen ist abgelaufen“, schimpft Catherine McGuinness von der City of London Corporation.

Großer Unmut auch bei der Logistikbranche und den Vertretern der Frachthäfen, die immer noch nicht wissen, wie sie ihre künftigen Abfertigungssysteme an den Brexit anpassen sollen. Zumal ein plötzliches No-Deal-Szenario in Dover und Calais ein absolutes Chaos verursachen dürfte.

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