So hatte man den britischen Regierungschef David Cameron noch nie gesehen: als Pokerspieler im ärmellosen Unterhemd mit muskulösen, tätowierten Oberarmen, im Mund eine dicke Zigarre, um den Hals baumelt eine dicke Silberkette, in der linken Hand hält er ein paar Spielkarten. Eine Karikatur mit einer klaren Botschaft. Dieser Mann ist ein halbseidener Typ, ein gefährlicher Hasardeur. Veröffentlicht wurde das Bild vom „Economist“ im Januar 2013, wenige Tage nachdem Cameron seinen Landsleuten versprochen hatte, er werde ihnen die Möglichkeit geben, in einem Referendum über die künftige Mitgliedschaft in der Europäischen Union abzustimmen.
Nun steht die große Entscheidung unmittelbar bevor. Am Donnerstag, 23. Juni werden die Briten wählen und irgendwann im Verlauf des nächsten Tages werden sie und die Welt erfahren, ob Großbritannien bleibt oder die EU verlässt. Die Meinungsumfragen lassen ein äußerst knappes Ergebnis erwarten. Der Abschied wäre ein historischer Schritt: 1973 war das Vereinigte Königreich nach zwei gescheiterten Anläufen in den Jahren 1963 und 1967 der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) beigetreten. Schon damals aber gab es britische Zweifler, die die engen Bindungen an Europa wieder lockern wollten. In einem ersten Referendum im Jahr 1975 setzen sich die EU-Befürworter jedoch mit überzeugenden 67 Prozent durch. Sogar die als eher euroskeptisch geltende spätere Premierministerin Margaret Thatcher warb für den Verbleib.
Ein EU-Austritt würde – da sind sich die meisten Wirtschaftsexperten und Industrieverbände, die Bank of England, das Finanzministerium, der Internationale Währungsfonds (IWF) und die OECD einig - erhebliche konjunkturelle Risiken nach sich ziehen und könnte Großbritannien in eine Rezession stürzen. Auch die Finanzmärkte bangen und an den Devisenmärkten wird ein massiver Kursverfall des Pfundes erwartet, sollten sich die Briten mehrheitlich für den Austritt – kurz „Brexit“ – entscheiden. Darüber hinaus würde ein solches Ergebnis auch die Einheit des Vereinigten Königreichs gefährden, denn obwohl die Schotten im September 2014 für die Union mit England und Wales stimmten, dürften sie aufgrund ihrer stark pro-europäischen Haltung ein neues Referendum anberaumen, falls Großbritannien die EU wirklich verlassen sollte.
Cameron muss allerdings auch um seine eigene politische Zukunft fürchten, denn je nach Ausgang des Referendums gilt ein innerparteilicher Putsch gegen den Premier als sehr wahrscheinlich. Da er sich persönlich für den EU-Verbleib stark macht, wäre seine Position als Regierungschef im Falle einer Mehrheit für den Brexit (Austritt) unhaltbar. Dem Regierungschef blüht damit möglicherweise noch vor dem Erreichen seines 50. Geburtstags im Oktober ein abruptes Ende seiner politischen Laufbahn.Doch auch ein knappes Votum für den Verbleib würde seine politische Karriere gefährden, denn in diesem Falle wollen ihm einige der harten EU-Gegner unter den Konservativen das Misstrauen aussprechen. In der Kulisse wartet bereits der charismatische Ex-Bürgermeister von London, Boris Johnson, die Gallionsfigur der Brexit-Fans und Favorit für Camerons Nachfolge. Sollte es eine klare Mehrheit für den EU-Verbleib geben wäre der Regierungschef bis auf weiteres sicher in seinem Amt, müsste dann allerdings seine gespaltene Partei wieder einen.
Vergiftetes Erbe
Schon im September 2014 setzte er beim schottischen Unabhängigkeitsreferendum alles auf eine Karte und hatte damals großes Glück, dass die Schotten dem Vereinigten Königreich treu blieben. Die hochriskante Strategie des Premiers in Sachen EU-Mitgliedschaft hat eine noch längere Vorgeschichte, die mit der jahrzehntelangen Zerrissenheit seiner Partei in der Europafrage zu tun hat. So muss sein Angebot vom Januar 2013, den Briten eine Volksabstimmung über ihr Verhältnis zur EU in Aussicht zu stellen als verzweifelter Versuch eines in die Enge getriebenen Politikers interpretiert werden, die euroskeptischen Kritiker unter den Tories zu besänftigen und den Aufstieg der Anti-EU-Partei UKIP (United Kingdom Independence Party) zu stoppen.
Doch die Taktik ging nicht auf, denn bei den Konservativen herrscht mittlerweile offener Krieg, und der Preis für Camerons Beschwichtigungstaktik ist hoch: mit dem Brexit droht nicht nur der wirtschaftliche Abschwung sondern auch ein neues Schottlandreferendum und somit ein Auseinanderbrechen des Vereinigten Königreichs. Cameron riskiert ein vergiftetes Erbe: beim Brexit ginge er als der britische Premier in die Geschichtsbücher ein, der sein Land aus der Europäischen Union geführt und ein Auseinanderbrechen des Vereinigten Königreichs zu verantworten hat.
Aber wo steht Cameron, der nun mit aller Kraft für den Verbleib in der EU kämpft, wirklich? Im November 2011 sagte er: „Ich glaube nicht daran, dass Großbritannien die Europäische Union verlassen sollte, aber ich glaube daran, dass es Kompetenzen gibt, die wir von der EU nach Großbritannien zurückholen können, um eine bessere Balance zu erreichen“. Viereinhalb Jahre später, beim EU-Gipfel im Februar diesen Jahres, hat er genau das versucht, doch mit mäßigem Erfolg: Ok, den Briten wurde zugestanden, dass ihnen keine Nachteile dadurch entstehen, dass sie nicht in der Eurozone sind, und ferner, dass der Vertragsanspruch einer „immer engeren Union“ sie künftig nicht zur Integration verpflichtet. Kleinere Erfolge erzielte Cameron auch bei den Sozialleistungen: In den ersten vier Jahren ihres Aufenthalts in Großbritannien muss der Staat Geringverdienern aus anderen EU-Ländern den Lohn aus der Sozialkasse nicht im selben Maße aufstocken wie Einheimischen. Und der britische Staat muss Ausländern, deren Kindern noch in der Heimat leben, lediglich ein Kindergeld in der dort geltenden Höhe überweisen. Doch Camerons eigentliches Ziel, wirksame Zugeständnisse zur Eindämmung der Einwanderung aus anderen EU-Staaten zu erreichen, scheiterte kläglich. Denn das hätte die Freizügigkeit, eine der vier Säulen des Binnenmarktes, gefährdet und war daher nicht machbar. Das hatten die übrigen EU-Regierungschefs, und nicht zuletzt Bundeskanzlerin Angela Merkel, Cameron schon vorab klar signalisiert – pragmatisch wie er ist, schraubte er seine Forderungen zurück.
Steve Hilton ehemaliger Berater in der 10 Downing Street, ein langjähriger Weggefährte des Premiers und einer seiner engsten persönlichen Freunde, berichtet jedenfalls, dass Cameron früher ein eingefleischter Euroskeptiker war und im Grunde seines Herzens auch heute noch ein Brexit-Befürworter sein dürfte: „Wenn er nur ein normaler Bürger, ein Hinterbänkler oder Minister wäre, dann würde er für den EU-Austritt werben“, so Hilton kürzlich in einem Interview. Als Regierungschef aber sehe er die Dinge nun wohl aus einer anderen Warte.
Beim letzten britischen Europa-Referendum im Jahr 1975 war David Cameron erst neun Jahre alt. Er wuchs als drittes Kind eines wohlhabenden Börsenmaklers in behüteten Verhältnissen auf, besuchte das Eliteinternat Eton, zu dessen Zöglingen später auch Prinz William und Prinz Harry gehörten. Auf das Oxford-Studium in Philosophy, Politics und Economics (PPE) – eine Fächerwahl, die in England traditionell den Weg zu einer Spitzenkarriere in Wirtschaft oder Politik ebnet – folgte der erste Job in der Grundsatzabteilung der konservativen Partei. Später wurde er Berater des damaligen Finanzministers Norman Lamont und war auch an dessen Seite, als das Pfund aufgrund massiver Attacken von Spekulanten wie George Soros am „Schwarzen Mittwoch“ im September 1992 aus dem Europäischen Währungssystem (EWS) ausscheiden musste. Das Debakel überzeugte ihn davon, dass das Pfund niemals zugunsten einer europäischen Gemeinschaftswährung abgeschafft werden dürfe.
Zweischneidiges politisches Schicksal
Europa und die Selbstzerfleischung der Konservativen, die die Spätphase der Amtszeit der legendären Premierministern Thatcher überschatteten, prägten den jungen Tory. 1994 wechselte er von der Politik in die Wirtschaft, wo er sieben Jahre lang als Kommunikationschef der privaten Medien- und Fernsehgesellschaft Carlton Communications arbeitete. 1997 erlebte er dann den drastischen Abstieg der verschlissenen Tory-Partei und den Erdrutschsieg Labours unter Tony Blair, der die Arbeiterpartei reformiert und damit wählbar gemacht hatte – ein Lehrstück, das er sich später selbst zum Vorbild nahm.
Cameron, Mitglied des Establishments, der mit seiner Frau Samantha, einer Designerin, damals zum schicken Notting-Hill-Set zählte, wurde immer wieder als politisches Leichtgewicht und als Mann ohne Visionen und Prinzipien kritisiert - glatt, geschmeidig, ein PR-Profi eben. Fest steht, dass er nachdem er im Jahr 2000 endlich einen Parlamentssitz ergattert hatte, recht schnell erkannte, dass seine Partei ohne einen radikalen Modernisierungskurs nicht mehr wählbar sein würde. Nachdem er 2005 die Führung der Tories übernommen hatte verpasste er den Konservativen ein neues, grünes und weichgespültes Image, er ließ sich mit Schlittenhunden fotografieren, um sein Engagement für den Umweltschutz zu betonen, befürwortete die Homo-Ehe, zeigte sich als Tory mit sozialem Mitgefühl. In vielerlei Hinsicht gelang es ihm damit, sich und seine Partei aus dem Schatten der Übermutter Thatcher zu lösen, nicht jedoch in der Europapolitik, die seit 20 Jahren für die Tories gefährlichen Sprengstoff darstellt. "Lass die Finger davon", so der Ratschlag von Außenminister William Hague, selbst einst Parteichef, als Cameron vor elf Jahren die Tory-Führung übernahm. Doch der hörte nicht auf ihn. Stattdessen propagierte Cameron den Ausstieg der konservativen Europaparlamentarier aus der Fraktion der EVP – der Europäischen Volkspartei - der auch die CDU angehört.
Cameron, der 2010 erstmals britischer Regierungschefs wurde, damals aber eine Koalition mit den europafreundlichen Liberaldemokraten (Libdems) einging, hat bereits angekündigt, dass er 2020 bei den nächsten Wahlen nicht mehr antreten wird. Sein Wahlsieg im Mai 2015, wo die Konservativen völlig überraschend siegten, hat ihm ein zweischneidiges politisches Schicksal beschert: denn mit dem Ausscheiden der Libdems aus der Regierung erstarkten die euroskeptischen Kräfte in seiner eigenen Partei, die ihn seither gewaltig unter Druck setzen. Sogar fünf Kabinettsmitglieder rebellieren offen gegen ihn und kämpfen für den Brexit. Wie 2014 beim Schottlandreferendum pokert er nun auch bei Europa hoch. Die Meinungsumfragen deuten auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen, die Wettbüros, die schon den Ausgang der schottischen Volksabstimmung richtig prognostiziert hatten, signalisieren dagegen einen komfortablen Sieg der EU-Befürworter.
Cameron muss dennoch weiter kämpfen und bangen. Seine persönlichen Popularitätswerte liegen derzeit unter denen seines innerparteilichen Rivalen Boris Johnson und sind sogar schlechter als die von Labourchef Jeremy Corbyn. Als die prominente Leitfigur der Remain-Kampagne muss er vermeiden, dass das EU-Referendum zu einer Abrechnung seiner bisherigen Regierungsbilanz wird. Am Donnerstagabend, als sich Cameron im Fernsehsender Sky News in einer Livesendung den Fragen des Publikums stellte, wurde ihm Heuchelei vorgeworfen, eine Studentin kritisierte, sie sei sein ständiges Geschwafel leid und der Moderator fragte spöttisch: „Was kommt beim Brexit zuerst: Der dritte Weltkrieg oder die globale Rezession?“ Skepsis und aggressive Stimmung überwogen: kein gutes Omen für den Zocker.