Brexit-Deal: Verschoben Johnson perfektioniert das Chaos

Brexit-Deal: Verschoben – Johnson perfektioniert das Chaos Quelle: imago images

Brexit-Chaos in Perfektion: Die EU und Johnson haben plötzlich einen Brexit-Deal, dann verhindern die Abgeordneten in London aber die Abstimmung darüber. Johnson muss daraufhin eine Verlängerung beantragen. Das tut er – und gleichzeitig auch nicht.

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Großbritanniens Premier Boris Johnson hoffte, dass er am Samstag einen triumphalen Sieg einfahren kann. Schließlich ist es ihm gelungen, die EU in intensiven Verhandlungen zu weitreichenden Konzessionen beim Austrittsabkommen zu bewegen. In einer Sondersitzung des Unterhauses am Samstag sollten die Abgeordneten über diesen Deal abstimmen.

Doch daraus wurde nichts. Statt eines Sieges, der durchaus historisch gewesen wäre, bescherten ihm die Abgeordneten eine blamable Niederlage: Sie stimmten mit einer Mehrheit von 16 Abgeordneten für einen Änderungsantrag des ehemaligen konservativen Abgeordneten Oliver Letwin, der heute als unabhängiger Abgeordneter im Parlament sitzt. Letwin ist einer der 21 Tory-Parlamentarier, die Johnson Anfang September aus der konservativen Fraktion geworfen hat, weil sie gegen die Regierung gestimmt haben.

Letwins Änderungsantrag besagt, dass das Unterhaus seine Zustimmung zu Johnsons Brexit-Deal zurückhält, solange nicht die begleitenden Gesetze verabschiedet wurden, die notwendig sind, um dem Brexit einen rechtlichen Rahmen zu geben. Nach dem Erfolg dieses Änderungsantrages zog die Regierung die nun bedeutungslos gewordene Abstimmung über den Brexit-Deal zurück.

Der Brief ohne Unterschrift

Johnson war nach der Niederlage rechtlich dazu gezwungen, die EU bis zum Samstagabend um eine Verschiebung des Brexit-Termins am 31. Oktober zu bitten. Doch auch hier bahnte sich unmittelbar die nächste Konfrontation an: In einer kurzen Ansprache nach der Abstimmung erklärte Johnson, dass er dieser Aufforderung nicht folgen werde. Erst kürzlich hat Johnson gar erklärt, dass er lieber „tot in einem Graben liegen“ würde, als die EU um eine Verschiebung des Brexit-Termins zu bitten.

Am Abend dann berichteten britische Medien, welche Lösung sich Johnson für dieses Dilemma ausgedacht hat: Johnson wies Diplomaten an, einen nicht unterschriebenen Brief mit einem Antrag auf eine Verschiebung des Brexit-Termins an die EU zu schicken. Zuvor hat Johnson Berichten zufolge mit Amtskollegen in der EU telefoniert, um klarzustellen, dass es sich um einen Antrag des Parlaments handele und nicht um seinen. In einem weiteren Schreiben bezeichnete Johnson eine weitere Brexit-Verschiebung dann als „Fehler“. Das zweite Schreiben trug Johnsons Unterschrift. EU-Ratspräsident Donald Tusk bestätigte am späten Samstagabend per Twitter den Erhalt des Schreibens zur Verschiebung. Er werde nun mit den Regierungschefs der EU-Länder Beratungen aufnehmen, wie auf die Bitte aus London reagiert werden soll.

Sein Vorgehen könnte für den britischen Premier ein juristisches Nachspiel haben. Denn erst vor wenigen Tagen hat Johnson einem schottischen Gericht, das sich mit einer möglichen Verschiebung des Brexit-Termins befasst hat, zugesichert, dass er im Fall einer Niederlage im Parlament bei der EU eine solche Verschiebung beantragen würde. Das schottische Gericht gab am Sonntag bekannt, dass es sich bereits mit dem Fall beschäftige. Ab Montag solle geprüft werden „ob der Premierminister auf das Recht und die Versprechen gepfiffen hat, die er dem Gericht gegeben hat“, sagte die Unterhausabgeordnete der Schottischen Nationalpartei, Joanna Cherry. Das Gericht könnte Johnson der Missachtung des Gerichts für schuldig befinden und as Parlament dieses Vorgehen sodann zum Anlass für ein Misstrauensvotum nehmen.

Berechtigte Sorgen

Spätestens an diesem Samstag dürften viele Beobachter im In- und Ausland angesichts des nicht enden wollenden Hickhacks um den Brexit den Faden verloren haben. Oberflächlich betrachtet wirkt die Auseinandersetzung zwischen der Regierung und dem Parlament auch zweifellos chaotisch. Zudem wird es für die Abgeordneten immer schwieriger, den Vorwurf zu entkräften, das Parlament wolle den Brexit blockieren. Johnson selbst versucht, dieses Bild von den Abgeordneten zu zeichnen. Doch bei der Entscheidung vom Samstag ging es um konkrete Befürchtungen: Bei vielen Abgeordneten bestand die Sorge, dass Johnson das Parlament wegen des Zeitdrucks dazu hätte drängen können, die erforderlichen Brexit-Gesetze unverändert abzusegnen. Das Parlament könnte der Regierung durch Änderungsanträge Bedingungen für die kommenden Verhandlungen über die zukünftigen Beziehungen zur EU auferlegen.

Zudem wäre durch ein Votum für Johnsons Brexit-Deal an diesem Samstag ein anderes Gesetz hinfällig geworden, das die Abgeordneten vor wenigen Wochen als eine Versicherung gegen einen ungeordneten Brexit erlassen haben: Das „Benn-Gesetz“ sieht vor, dass Johnson die EU um einen Aufschub bitten muss, falls die Abgeordneten bis zum 19. Oktober nicht für einen Brexit-Deal gestimmt haben. Verzögerungen bei der Verabschiedung der begleitenden Brexit-Gesetze hätten nach einer positiven Abstimmung über den Brexit-Deal dazu führen können, dass Großbritannien die EU am 31. Oktober ohne ein Abkommen verlässt.

Und so erklärte auch Oliver Letwin, dessen Änderungsantrag sich am Samstag durchgesetzt hat, er wolle Johnsons Brexit-Deal durchaus unterstützen. Sein Antrag sei als „Versicherungspolice“ zu verstehen, „die uns davon abhält, automatisch aus der EU zu stürzen, falls es bis zum 31. Oktober keinen Deal gibt.“

Kritik an den Inhalten

Im Verlauf der bisweilen hitzigen Debatte am Samstag kamen zudem einige inhaltliche Kritikpunkte an Johnsons Brexit-Deal zur Sprache. So bemängelten vor allem Labour-Politiker, dass es der Brexit-Deal in seiner derzeitigen Form einer zukünftigen Tory-Regierung erlauben könnte, von den hohen EU-Standards abzuweichen und beispielsweise die Arbeitnehmerrechte zurückzufahren.

Einige Abgeordnete bemängelten zudem, dass die Regierung keine Studie zu den Folgen von Johnsons Brexit-Deal veröffentlich hat. So hatten bereits in den vergangenen Tagen Industrievertreter das Abkommen kritisiert: Der Verband „Make UK“ etwa bemängelte, dass die derzeit vorgesehene Übergangsfrist gerade einmal 14 Monate betragen soll. Der Verband sprach sich für eine Verpflichtung Londons aus, auch langfristig den EU-Standards zu folgen und verlangte eine Abkehr von den geplanten strikten Einwanderungskontrollen.

Zudem kritisierten Vertreter der Scottish National Party (SNP) während der Debatte im Unterhaus, dass Nordirland Sonderrechte erhalten soll, die Schottland vorenthalten würden. Der Chef der SNP-Fraktion im Unterhaus, Ian Blackford, sagte, Johnsons Deal würde Nordirland somit einen Wettbewerbsvorteil gegenüber Schottland geben. Das Abkommen würde de facto dazu führen, dass Nordirland nach dem Brexit in der Zollunion verbleiben würde. Genau das habe Schottland bislang vergeblich von London verlangt.

Regierung warnt erneut vor hartem Brexit

Am Sonntag machte Johnsons Regierung deutlich, dass sie nun ihre Vorbereitungen für einen ungeregelten Brexit vorantreibe und warnte nun erneut vor dem Worst-Case-Szenario, falls ein Brexit nun ohne Vertrag vollzogen wird: massive Verkehrsstörungen und lange Warteschlangen an Häfen, Engpässe bei Lebensmitteln und Medikamenten sowie mit Probleme für Reisende. Falls keine Verschiebung garantiert werde, wolle man sicherstellen, alles Mögliche für einen EU-Austritt ohne Scheidungsabkommen getan zu haben, sagte Minister Michael Gove am Sonntag dem Sender „Sky News“. Goves Warnungen sollen womöglich Druck auf die britischen Abgeordneten ausüben, das Brexit-Abkommen von Johnson doch noch zu stützen.

Von der Polizei eskortiert

Wie scharf der Ton, wie aufgeladen die Stimmung in Großbritannien mittlerweile ist, zeigte sich am Samstagnachmittag in London: Während die Abgeordneten Johnsons Brexit-Deal debattierten, protestierten vor dem Gebäude zehntausende Menschen für ein zweites Referendum. Meldungen über die Niederlage der Regierung lösten unter den Demonstranten großen Jubel aus. Mehrere Brexit-kritische Abgeordnete hielten nach der Abstimmung im Parlament Reden vor den Demonstranten. Einige führende Brexit-Unterstützer mussten unter Polizeischutz an der Demonstration vorbeigeführt werden. Sie wurden dabei ausgebuht. Die Labour-Abgeordnete Diane Abbot wiederum musste von Polizisten vor Pro-Brexit-Demonstranten in Sicherheit gebracht werden, die sie beschimpften. Die Entwicklungen zeigen: Das politische Klima in Großbritannien heizt sich weiter auf.

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