Zustimmung des britischen Parlaments ungewiss EU-Staaten billigen Brexit-Deal

Weißer Rauch in Brüssel: Großbritannien und die EU haben sich auf ein Brexit-Abkommen geeinigt. Quelle: dpa

In letzter Minute haben sich London und Brüssel zusammengerauft und auf ein Abkommen zum Brexit geeinigt. Für Premierminister Boris Johnson dürfte der Ärger damit aber noch lange nicht vorbei sein.

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Großbritannien und die Europäische Union haben eine Einigung im Brexit-Streit verkündet. Damit steigen die Chancen, dass der britische EU-Austritt geregelt vollzogen werden kann. Die EU-Staats- und Regierungschefs nahmen die Brexit-Vereinbarung auf ihrem Gipfel am späten Nachmittag an. Allerdings muss das britische Parlament die Vereinbarung mittragen.

Der Chefunterhändler der EU, Michel Barnier, zeigte sich in einer Pressekonferenz zuversichtlich in Hinblick auf einen geordneten Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union am 31. Oktober. Ab 1. November werde man dann über die künftigen Beziehungen sprechen, sagte Barnier. Die Zeit für die Ratifizierung könne noch ausreichen.

Barnier appellierte an das britische Unterhaus, Verantwortung zu zeigen und das „faire und vernünftige Abkommen“ anzunehmen. Da der britische Premierminister Boris Johnson dem Deal zugestimmt habe, vertraue er offenkundig darauf, eine Mehrheit im britischen Parlament zu bekommen, sagte der Unterhändler. Mehr könne er dazu nicht sagen.

Die nordirische Partei DUP lehnt nach einem BBC-Bericht das neue Abkommen aber ab. Ohne deren Zustimmung dürfte es für Johnson schwierig werden, den Deal durch das Unterhaus zu bringen. Der konservative Politiker hat im Parlament keine Mehrheit.

Kritik gab es auch von Labour-Chef Jeremy Corbyn. Er sieht trotzdem die Sicherheit von Lebensmitteln, den Umweltschutz und die Rechte von Arbeitnehmern nach dem EU-Austritt in Gefahr und spricht von einem „Ausverkauf“. Der Vorsitzende der größten Oppositionspartei erklärte: „Es scheint, dass der Premierminister einen noch schlechteren Deal verhandelt hat als (seine Vorgängerin) Theresa May.“

Streitpunkt war bis zuletzt vor allem die enthaltene Garantieklausel für eine offene Grenze zwischen dem EU-Staat Irland und dem britischen Nordirland, der sogenannte Backstop. Derzeit gibt es keine Kontrollen zwischen beiden Teilen der irischen Insel. Das wollen Dublin und Brüssel nach dem Brexit nicht ändern.

Nach Barniers Worten umfasst die Einigung nun vier Punkte: Nordirland hält sich weiter an bestimmte EU-Warenstandards, Nordirland bleibt sowohl in einer speziellen Zollpartnerschaft mit der EU als auch in der Zollunion des Vereinigten Königreichs, es gibt eine Vereinbarung über die Mehrwertsteuer, um Marktverzerrungen zu vermeiden und die nordirische Volksvertretung könne vier Jahre nach Inkrafttreten der Vereinbarung einmal mit einfacher Mehrheit darüber abstimmen, ob sie weiter gelten solle. Die jetzige Vereinbarung sei keine Übergangslösung, sondern würde dann auf Dauer gelten.

Der vom Brexit besonders betroffene EU-Staat Irland trägt dies mit. „Wir haben eine einzigartige Lösung für Nordirland gefunden, die der einzigartigen Geschichte und Geografie Rechnung trägt“, schrieb Regierungschef Leo Varadkar auf Twitter. Bundeskanzlerin Merkel nannte die Unterstützung Varadkars ein „ganz wichtiges Zeichen“ und die Einigung vom Donnerstag „eine gute Nachricht“. Darüber hinaus wurde die politische Erklärung über die künftigen Beziehungen der EU zu Großbritannien geändert, wie Barnier weiter sagte. Darin gebe Großbritannien „solide Garantien“, dass EU-Standards etwa bei Umwelt- oder Sozialauflagen nicht unterboten werden. Das sei das bestmögliche Ergebnis gewesen, sagte Barnier.

Der Brexit-Experte des Europaparlaments, Guy Verhofstadt, sagte nach einer Unterrichtung durch EU-Unterhändler Michel Barnier: „Es gibt Möglichkeiten für eine Einigung, aber es ist noch nicht vollbracht.“ Verhofstadt erkannte an, dass es einen „fundamentalen Wandel“ auf britischer Seite gegeben habe. Die offene Frage sei, ob das britische Unterhaus zustimmen werde.

Johnsons Zugeständnisse an die EU bringen aber wiederum Probleme mit dem britischen Parlament mit sich. Die nordirische Partei DUP könne den im Vertragsentwurf vorgeschlagenen Zugeständnissen bei Zöllen und anderen Kompromissen nicht zustimmen, sagten Parteichefin Arlene Foster und der Fraktionsvorsitzende Nigel Dodds. Man werde aber weiter mit der Regierung zusammenarbeiten, um ein „vernünftiges“ Abkommen zu erreichen. Der DUP fällt beim Ringen um eine Mehrheit für ein Abkommen im britischen Unterhaus eine Schlüsselrolle zu, weil Johnsons Minderheitsregierung auf deren zehn Abgeordnetenstimmen angewiesen ist. Zudem hat eine ganze Reihe Abgeordneter aus Johnsons Konservativer Partei durchblicken lassen, dass die Haltung der DUP für ihr eigenes Abstimmungsverhalten ein wichtiger Punkt sein werde.

Das Parlament soll auf einer Sondersitzung am Samstag über die angestrebte Vereinbarung abstimmen. Sie ist zwischen 10.30 Uhr und 15 Uhr deutscher Zeit angesetzt. Es ist die erste außerordentliche Sitzung an einem Samstag seit 37 Jahren. Zunächst soll am Donnerstag darüber abgestimmt werden, ob das Treffen stattfinden kann.

Die frühere Tory-Abgeordnete Anna Soubry bezeichnete die knapp fünf Stunden am Samstag als unzureichend. Johnsons Brexit-Deal sei schlechter als der seiner Vorgängerin Theresa May, der drei Mal vom Parlament abgelehnt worden war. Die Zeit für unabhängige Bewertungen und Analysen sei zu knapp, schrieb Soubry auf Twitter. Sie führt eine Gruppe proeuropäischer ehemaliger Tory- und Labourabgeordneter an.

Johnson hatte am Mittwoch in London für sein Abkommen geworben, unter anderem bei einem einflussreichen Komitee von Politikern seiner Partei im Unterhaus. Abgeordnete berichteten, dass er in einer Rede den Weg zum Deal mit einer Tour auf den Mount Everest verglich.

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