"Die Briten sind leider doch doof"
Die Briten sind ein stolzes Volk. Besonders stolz sind sie auf ihre Fähigkeit zu einer „Stiff Upper Lip“. Diese Gabe, auch in schwierigen Situationen Ruhe und Entschlossenheit zu bewahren und einfach weiterzumachen, kann eine tolle Sache sein. Sie half dem Land etwa, weitgehend alleine dem Nazi-Regime zu trotzen.
Sie kann aber auch eine sehr schwierige Angelegenheit sein, weil die Lip in ihrer Reinform dazu einlädt, selbst beim größten anzunehmenden Unsinn, einem regelrechten Doofheits-Gau, keine Miene zu verziehen.
So einen Unsinn haben die Briten sich gerade selber eingebrockt, mit ihrem Nein zu einer weiteren Mitgliedschaft in der Europäischen Union.
Das sagen Ökonomen zum Brexit-Entscheid
„Wir müssen einen sanften Übergang in eine neue wirtschaftliche Beziehung sicherstellen. Der IWF unterstützt die Bank von England und die Europäische Zentralbank darin, für die nötige Liquidität des Bankensystems zu sorgen und Schwankungen nach der Abstimmung zu begrenzen.“
„Der Brexit ist für die deutsche Wirtschaft ein Schlag ins Kontor.“
„Die Briten werden die Ersten sein, die unter den wirtschaftlichen Folgen leiden werden.“
„Wir erwarten in den kommenden Monaten einen deutlichen Rückgang des Geschäfts mit den Briten. Neue deutsche Direktinvestitionen auf der Insel sind kaum zu erwarten.“
„Nach einem EU-Austritt sollte niemand Interesse daran haben, mit Zollschranken zwischen Großbritannien und dem Festland den internationalen Warenverkehr zu verteuern.“
„Es wird nicht lange dauern, bis unsere Maschinenexporte nach Großbritannien spürbar zurückgehen werden.“
„Weniger Wirtschaftswachstum in den EU-Staaten und ein schwächeres Exportgeschäft werden die Konsequenzen sein.“
„Die EU-Staats- und Regierungschefs müssen schnell die dringend erforderlichen Reformen für mehr Wettbewerbsfähigkeit und Fairness im EU-Binnenmarkt in Angriff nehmen.“
"Es kommt jetzt darauf an, ob wir eine saubere oder eine schmutzige Scheidung bekommen. Es geht vor allem darum, ob Großbritannien nach einem Verlassen der EU den Zugang zum EU-Binnenmarkt behält. Wichtig ist, dass die EU jetzt nicht die beleidigte Leberwurst spielt. Sie sollte ein starkes Interesse daran haben, mit den Briten in den kommenden zwei Jahren eine saubere Trennung zu vereinbaren. Das Land ist zweitwichtigster Handelspartner der EU, nach den USA und vor China. Die EU hat ein großes wirtschaftliches Interesse daran, Zölle im Warenhandel zu vermeiden und das Land im Binnenmarkt zu behalten.
Der Brexit stellt auch ein politischen Risiko für die EU dar. Denn das wird den Anti-EU-Parteien in vielen EU-Ländern Rückenwind geben. Die Regierungen werden noch weniger als bisher mehr Europa wagen, so dass die Probleme der Währungsunion weitgehend ungelöst bleiben. Was die EZB mehr denn je zwingt, die Probleme durch eine lockere Geldpolitik zu übertünchen.
Der Brexit schafft Unsicherheit und ist insofern schlecht für die deutsche Wirtschaft. Aber wir erwarten nicht, dass der Euro-Raum in die Rezession zurückfällt. Das gilt auch für Großbritannien und erst recht für den Fall, dass sich allmählich eine saubere Scheidung abzeichnet."
"Jetzt kommt eine große Phase der absoluten Unsicherheit. Denn etwas Vergleichbares hatten wir noch nicht. Unsicherheit ist schlecht für die Wirtschaft." Der Aufschwung in Großbritannien dürfte nun weitgehend zu Ende sein, in der Euro-Zone werde er sich abschwächen. Hersteller von Investitionsgütern wie Maschinen und Autos dürften die Folgen stärker spüren. "Deutschland ist also stärker betroffen als beispielsweise Spanien", sagte Schmieding.
"Die Entscheidung der britischen Wähler für den Brexit ist eine Niederlage der Vernunft", sagte er. "Die Politik muss jetzt alles tun, um den wirtschaftlichen Schaden zu begrenzen. Dazu gehört es, sicherzustellen, dass Großbritannien so weit wie möglich in den Binnenmarkt integriert bleibt." Es sei wichtig, die Verhandlungen darüber möglichst schnell zum Abschluss zu bringen, damit die Phase der Unsicherheit über die künftigen Wirtschaftsbeziehungen möglichst kurz bleibe.
"Die Finanzmärkte werden einige Tage brauchen, um den Schock zu verarbeiten. Die Politik muss jetzt versuchen, das Beste aus einer Entscheidung zu machen, die die EU schwächt. Das wird lange brauchen. Und so lange wird Unsicherheit das Geschehen prägen, zumal die Fliehkräfte in anderen EU-Ländern stärker zutage treten werden. Das Ergebnis kann auch die Nicht-Mainstream-Parteien in Spanien stärken, wo am Sonntag gewählt wird. Bis gestern hatte Europa ein Problem, jetzt ist erst mal Panik."
"Das Ergebnis des Referendums ist kein gutes Signal für Europa. Aber es ist vor allem kein gutes Signal für Großbritannien. Die politischen Strukturen der EU sind stark. Und anders als bei einem 'Grexit', also dem Ausscheiden eines Landes aus der Währungsunion, für das es keine rechtliche Grundlage gibt, ist die Prozedur für das Ausscheiden eines Landes aus der EU rechtlich klar geregelt. Die Folgen für den europäischen Integrationsprozess werden weniger gravierend sein, als jetzt oft vorschnell beschrieben. Auch wenn es schwierig wird: Die EU kann einen Austritt Großbritanniens verkraften.
Innerhalb Europas sollte der Fokus der nächsten Monate auf der Vertiefung des Euro-Raums liegen. Die Euro-Krise ist immer noch nicht ausgestanden. Die EZB hat die Grenze ihres Mandats erreicht. Nun müssen sich die Euro-Länder so schnell wie möglich auf einen Stabilisierungsplan einigen, der sowohl mehr Risikoteilung (vor allem schwierig für Deutschland) als auch mehr Souveränitätsteilung (vor allem schwierig für Frankreich) umfasst. Allerdings ist für einen solchen Plan kaum Zeit."
"Jetzt wird es turbulent an den Finanzmärkten. Das Pfund ist bereits auf einem 30-Jahres-Tief gegenüber dem Dollar. In absehbarerer Zeit sollten wir aber wieder eine Erholung sehen. Die Finanzmärkte fragen sich jetzt: Wie sieht das neue Verhältnis zwischen EU und Großbritannien aus? Die Briten könnten künftig Mitglied des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) werden, wie Norwegen. Ich gehe nicht davon aus, dass das Verhältnis EU-Großbritannien damit beendet ist. Die EU wird das Land nicht am langen Arm verhungern lassen.
Mit dem heutigen Tag ändert sich erst einmal gar nichts. Es wird jetzt Verhandlungen mit der EU geben. So lange bleibt GB Vollmitglied der EU, also die nächsten zwei Jahre. Ich gehe nicht davon aus, dass sich die wirtschaftliche Lage dramatisch verändern wird. Die Briten dürften es aber merken: Die dortigen Unternehmen dürften jetzt Investitionen überdenken. Aber ich denke nicht, dass das Land nun in eine Rezession fällt."
Es ist eine Wahl der größten anzunehmenden ökonomischen Unvernunft – und bezahlen müssen die Briten selber.
Großbritannien mutiert zu „Little England“
Für das Land wird die Entscheidung sehr, sehr teuer werden. Und ob die USA wirklich bereitstehen, um solche Verluste des einst wichtigsten Partners auszugleichen? Großbritannien müsse sich hinten anstellen, hat US-Präsident Barack Obama bei seinem Staatsbesuch in London gerade kühl beschieden.
Das Land, dem die eigene Größe stets so wichtig war, hat der eigenen Verzwergung zugestimmt.
Großbritannien wird zu einer Art „Little England“ mutieren, einer Mittelmacht unter vielen, wie beim Fußball schon seit Jahrzehnten der Fall.
Wie die EU auf diesen Unsinn reagieren soll? Eine Stiff Upper Lip muss auch sie zeigen, und Haltung bewahren. „Alles klar, dann gute Reise“, sollte die Botschaft lauten, statt hektischer Nachverhandlungen und neuer Kompromissangebote, von der nun manche in Brüssel raunen.
Die EU wird ohne Großbritannien nicht untergehen und auch nicht zerfallen. Dafür war die bisherige Rolle der Briten häufig schon zu destruktiv. Im Gegenteil, aus der Brexit-Entscheidung könnte eine Art Revitalisierung der Gemeinschaft folgen – denn hinter den Briten verstecken kann man sich nun nicht mehr.
Leave-Kampagne enttarnt Europas Verfassung
Sich auf so eine Revitalisierung zu verlassen und einfach weiterzumachen wie bisher, kann aber auch keine europäische Alternative sein. Weniger, weil die Abstimmung so grundlegende Fehler der eigenen Konstruktion offengelegt hat. Sondern weil die britische Leave-Kampagne eine Grundschwäche der europäischen politischen Verfassung enttarnt – die Unfähigkeit, den Wähler mit rational ökonomischen Argumenten zu erreichen.
Cameron hatte seinen Kampf um das Argument aufgebaut, ein Verbleiben in der EU sei wirtschaftlich richtig und wichtig. Dafür hatte er jede Menge Studien und Fakten parat, die alle haarklein belegten, dass Großbritannien zu den größten Gewinnern des EU-Binnenmarktes gehört, dass dieses Land sehr viel „better off“ in der europäischen Gemeinschaft ist als außerhalb von ihr.
„Die sind doch nicht doof“, war ein Standardsatz in Brüssel und anderswo, wenn es um die Möglichkeit ging, die Briten könnten sich wirklich für einen Austritt entscheiden.
Meinung ist alles
Aber diese scheinbar so bestechende Vernunft ließ sich leicht aushebeln. Auch weil dieser britische Meinungskampf in all seiner Hässlichkeit, Aggression und häufig offenen Unwahrheit eher an amerikanische Zustände erinnerte als an europäische. Aber es sind Zustände, an die wir uns im Zeitalter der sozialen Medien gewöhnen müssen - in der Meinung (vor allem die, die man sich von Gleichgesinnten stetig bestätigen lässt) alles ist und Fakten wenig.
Und wir dürfen nicht vergessen: diese Anti-EU-Ressentiments haben verfangen, weil sie ein dumpfes Gefühl bedienen, dass „die da oben“ abgekoppelt sind vom Rest der Welt, dass die Moderne, die rasante Globalisierung etwas Beängstigendes sind – eine Welt, in der ein Durchschnittsbürger rasch aus dem Tritt gerät.
Wie man diese Wähler wieder erreicht, das ist die wahre Herausforderung für die Politiker in Brüssel, aber auch in Berlin, Paris, Madrid oder Lissabon. Denn davon gibt es in Europa sehr, sehr viele.