Brexit Ein Deal mit vielen Fragezeichen

Eine Einigung zu Monatsende sichert der Deal nicht. Immerhin: Die Gefahr eines baldigen chaotischen Ausscheidens hat sich reduziert. Quelle: dpa

Die EU-Staaten haben das neue Abkommen zum Brexit zwar angenommen und Unterstützung für ein schnelles Inkrafttreten bekundet. Doch das Papier muss andere Hürden erst noch nehmen.

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Es ist eine eherne Regel im EU-Geschäft: Wichtige Entscheidungen fallen auf den letzten Drücker. Das ist alle sieben Jahre bei den Haushaltsverhandlungen so, und das läuft bei den Brexit-Verhandlungen nun genauso. Wenige Stunden vor Beginn des EU-Gipfels haben sich die Unterhändler auf eine Neufassung der entscheidenden Dokumente für den Brexit geeinigt. Doch sichert die Einigung, die EU-Chefunterhändler Michel Barnier als „fair und vernünftig“ gepriesen hat, einen geordneten Brexit zum Monatsende? Mitnichten. Aber die Gefahr eines baldigen chaotischen Ausscheidens hat sich immerhin reduziert.

Am Donnerstag, dem ersten Tag des EU-Gipfels, haben die 27 Staats- und Regierungschef der verbleibenden EU-Länder den neuen Brexit-Vertrag gebilligt. Aus den EU-Hauptstädten war zuvor zu hören, dass die Zeit eigentlich zu knapp sei, um die Texte juristisch zu prüfen. Die EU-Botschafter wurden erst mittags über die Einzelheiten der Einigung informiert. Bei einer hochkomplexen Angelegenheit wie dem Brexit kommt es eigentlich auf jedes Detail an. Der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte hat vor Beginn des Gipfels darauf hingewiesen, dass er und seine Kollegen die Texte sehr genau studieren werden.

Eine wichtige Hürde hat der Brexit-Vertrag nun also überwunden. Doch es ist keinesfalls die letzte.

In der Neufassung fallen die Bestandteile des Abkommens sehr viel komplizierter aus als ursprünglich mit Johnsons Vorgängerin Theresa May vereinbart. Besonders die Lösung der Zollfrage ist für Laien kaum mehr nachvollziehbar. Der neue Kompromiss vermeidet eine harte Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland, was für die EU eine unverzichtbare Bedingung für eine Einigung war. Das Vereinigte Königreich soll nach dem Brexit in Nordirland auf Güter aus Drittstaaten Zölle nach den eigenen Regeln erheben können – so lange keine Gefahr besteht, dass diese Güter nach Irland gelangen und somit in das Gebiet der EU. Wie diese Gefahr ausgeschlossen werden soll, bleibt vage. Barnier unterstrich, dass die Gefahr bei Gütern bestehe, die weiterverarbeitet werden. Sollte Großbritannien künftig deutlich niedrigere Zölle gegenüber Drittstaaten erheben, wäre der Schmuggel von Konsumgütern allerdings gleichermaßen attraktiv. In den vergangenen Wochen hatten Diplomaten von EU-Ländern darauf gepocht, dass diese Gefahr gebannt werden müsse.

Bei der bis zuletzt strittigen Frage der Mehrwertsteuer haben sich Großbritannien und die EU darauf verständigt, einen Mechanismus einzuführen, damit Gebrauchsgegenstände in Nordirland und Irland ähnlich besteuert werden. In Irland werden Zeitungen bisher beispielsweise mit neun Prozent besteuert, in Großbritannien mit null Prozent. Andersherum besteuert Irland manche landwirtschaftlichen Vorprodukte nicht, Großbritannien aber mit 20 Prozent. Wie genau der Mechanismus funktionieren soll, ist noch vage.

Offen bleibt aktuell, ob die EU-Staats- und Regierungschefs, zu einem weiteren Gipfel zusammenkommen, um die Brexit-Einigung offiziell zu beschließen. Dies kann erst passieren, wenn das Europäische Parlament dem Deal zugestimmt hat. Ein mögliches Datum für dieses Votum wäre der 24. Oktober.

Die größere Hürde ist freilich zuvor die Zustimmung des britischen Unterhauses. EU-Chefunterhändler Michel Barnier hat sich vorsichtig optimistisch gezeigt, dass das britische Parlament diesmal sein Plazet geben könnte. Es werde „verantwortungsvoll“ handeln, sagte er. In der Amtszeit von Theresa May hatte das Unterhaus drei Mal mit nein gestimmt.

Mays Nachfolger ist es gelungen den ungeliebten Backstop-Mechanismus aus dem Abkommen zu entfernen. Weil sich Johnson als hartnäckiger Brexit-Befürworter inszeniert hat, fällt es ihm nun möglicherweise leichter, die Einigung beim heimischen Publikum zu verkaufen. Das tagelange Ringen, das in Brüssel stattgefunden hat, hilft ihm vermutlich bei der Vermarktung des Abkommens. Und er kann glaubwürdig versichern, das Abkommen noch einmal aufgeschnürt zu haben. May war immer wieder vorgeworfen worden, nicht hart genug verhandelt zu haben.

Selbst wenn der neue Deal wieder keine Mehrheit im Unterhaus findet, könnte Johnson einen harten Brexit womöglich vermeiden. Nachdem man einer Einigung schon sehr nahe war, könnte er eine erneute Verlängerung – die ihm das Parlament ohnehin auferlegt hat – noch einmal rechtfertigen.

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