Fünf Stunden lang stritten die Mitglieder des britischen Kabinetts in der 10 Downing Street am Mittwochabend. Heftig. Es seien Tränen vergossen worden, berichteten Teilnehmer später.
Immerhin konnte Premierministerin Theresa May anschließend verkünden, ihr Kabinett habe den in 17 Monaten mühsam ausgehandelten Entwurf für die Scheidung von der Europäischen Union einstimmig gebilligt. Der Weg für einen EU-Sondergipfel, auf dem Europas Staats- und Regierungschefs am 25. November weiter über den Brexit verhandeln wollen, schien damit frei. Doch die Einigkeit ist brüchig.
Dabei war der Etappensieg für die angeschlagene Premierministerin ein wichtiger. May machte gleich klar, der vorliegende Entwurf sei nicht ideal, aber das Beste, was nach mehreren tausend Verhandlungsstunden möglich war – im „nationalen Interesse“, wie sie etwas pathetisch formulierte. Ihren Ministern habe sie klar gemacht, um welche Alternativen es dabei ging: den geordneten Austritt unter den nun vorliegenden Bedingungen oder einen chaotischen No-Deal-Brexit oder gar keinen Brexit. Nun wollte May ihren Blick bereits auf die nächste und deutlich höhere Hürde richten. Sie muss ihren Plan vom britischen Parlament absegnen lassen, wo sie keine Mehrheit und jede Menge Gegner hat.
„Die Einigung löst sich vor unseren Augen auf“
Doch am Donnerstag herrscht Chaos in London. Mehrere wichtige Minister, darunter der Brexit-Minister Dominic Raab, traten aus Protest an dem Deal am Donnerstagvormittag zurück. Die britische Opposition erklärt bereits, die Regierung Mays falle auseinander. May verfüge über keine Authorität mehr. „Die sogenannte Einigung löst sich vor unseren Augen auf“, sagt ein Labour-Vertreter.
Das unschöne Prozedere ist nicht neu. Schließlich ist es erst wenige Monate her, dass die Premierministerin ihren sogenannten „Chequers Plan“ als großen Erfolg verkaufte – jenes Brexit-Papier, das sie ihren Ministern Anfang Juli auf ihrem Landsitz Chequers präsentierte. Obwohl es auch damals so aussah, als habe sie die Zustimmung ihrer Kollegen, trat der damalige Brexit-Minister David Davis nur drei Tage später unter Protest zurück. Kurz danach warf Außenminister Boris Johnson das Handtuch.
Hinzu kommt: In London machten bereits am Mittwochabend Gerüchte die Runde, laut derer einige ihrer konservativen Parteifreunde einen Misstrauensantrag planen, um die Premierministerin zu entmachten. Mindestens 48 konservative Abgeordnete dürften sich bis Mittag für ein Misstrauensvotum gegen May aussprechen, hieß es schließlich am Donnerstagvormittag. Die Anspannung ist enorm.
Knackpunkt: Die Irland-Frage
May ist seit den Wahlen von 2017 in der Defensive, weil die Tories damals ihre Parlamentsmehrheit einbüßten und die Premierministerin als Chefin einer Minderheitsregierung nun auf die Unterstützung der nordirischen Protestantenpartei DUP angewiesen ist. Seither ist fast jede Abstimmung eine Hängepartie und das gilt besonders für die kontroverse Brexit-Gesetzgebung.
Es kommt für May äußerst ungelegen, dass sich im Vorfeld der Parlamentsabstimmung nun Kritik von ungeahnter Seite regt, denn das könnte ihre Versuche, im Unterhaus eine Mehrheit für ihren Plan zu schmieden noch schwieriger machen. Nicht nur droht die nordirische Protestantenpartei DUP immer lauter mit einem Veto – sondern auch Politiker in Schottland und Wales halten den Entwurf inzwischen für inakzeptabel.
Die Schotten kritisieren, dass die Provinz Nordirland künftig deutlich enger mit der EU verbunden bleiben soll als andere Regionen Großbritanniens. Eine solche Ungleichbehandlung der verschiedenen Teile des Vereinigten Königreichs sei unhaltbar. Und schließlich habe Schottland sich stets für den Verbleib in der EU stark gemacht, tönt es aus Edinburgh.
Erschwerend kommt hinzu: Die Fischer in Schottland drohen mit Meuterei, weil sie fürchten, dass ihre europäischen Kollegen auch künftig weiter Zugang zu britischen Gewässern erhalten werden. Nun muss May befürchten, dass nicht nur die 35 Abgeordneten der schottischen Nationalpartei SNP, sondern auch die 13 schottischen Tories ihr im Parlament die Gefolgschaft verweigern.
Knackpunkt: Verflechtungen mit der EU
So mehren sich die Anzeichen, dass der Scheidungsentwurf am Widerstand der Abgeordneten scheitern könnte. Die Brexit-Hardliner um den Tory Jacob Rees-Mogg wollen ihn auf jeden Fall durchfallen lassen. Es sei ein „ziemlich mieses Abkommen“, wetterte Rees-Mogg bereits. Klar sei nämlich, dass dieser Plan Großbritannien langfristig an die verhasste EU binden werde.
Das Problem für May: Die Kritiker haben damit durchaus einen Punkt. Kurz nachdem die Premierministerin in London vor die Kameras getreten war, erläuterte in Brüssel EU-Chefunterhändler Michel Barnier die wichtigsten Punkte des 585 Seiten umfassenden Entwurfs für das Brexit-Abkommen, in dem die Austrittsmodalitäten Großbritanniens nun festgeschrieben sind. Das Abkommen besteht aus 185 Artikeln und drei Protokollen, die sich unter anderem mit der kontroversen Nordirlandfrage, Gibraltar und Zypern befassen.
Auf dem Weg zum sanften Brexit? Was der „Durchbruch“ bedeutet
Experten von EU und Großbritannien haben sich auf den Text eines Scheidungsabkommens geeinigt. Wird es von allen politischen Ebenen abgesegnet, ist der Weg frei für eine geordnete Trennung. Der Vertrag soll eine Übergangsfrist bis Ende 2020 bringen, in der sich fast nichts ändert und in der beide Seiten in Ruhe ihre künftigen Beziehungen regeln können.
Das Abkommen verspricht unter anderem Rechtssicherheit, dass EU-Bürger in Großbritannien und Briten auf dem Kontinent auch nach dem Brexit weitgehend wie bisher weiterleben können. Außerdem ist eine Schlussrechnung für britische Zahlungen an die EU vereinbart, die sich über einige Jahre hinweg auf geschätzt um die 45 Milliarden Euro belaufen sollen. Dritter zentraler Punkt: An der der Grenze zwischen dem EU-Staat Irland und dem britischen Nordirland soll es auch künftig keine Kontrollen oder Schlagbäume geben, um keine politischen Unruhen durch eine Teilung der Insel zu riskieren.
Vieles war bereits in Eckpunkten vor einem Jahr vereinbart, darunter die Rechte der Bürger und die Finanzen. Bis zuletzt umstritten war dagegen die Irland-Frage, obwohl man auch dafür im Dezember 2017 eine Lösung gehabt zu haben glaubte. Damals war vereinbart: Nordirland sollte - wenn man keine bessere Lösung findet - auch nach dem Austritt Großbritanniens aus dem EU-Binnenmarkt und der Europäischen Zollunion eng an die EU-Regeln angebunden bleiben, damit man Waren und Menschen nicht an der neuen EU-Außengrenze zu Irland kontrollieren muss. Diese Absprache, die von der EU und Großbritannien unterschiedlich ausgelegt wurde, hielt aber nicht. Vor allem die nordirische Partei DUP, die die britische Regierung stützt, wollte einen Sonderstatus für Nordirland unter allen Umständen vermeiden, um nicht vom Rest des Landes abgekoppelt zu werden.
Nach dem, was bisher bekannt ist, soll Großbritannien notfalls und vorläufig nach der Übergangsfrist als Ganzes in einer Zollunion mit der EU bleiben. Gemeinsame Standards sollen sichern, dass sich die Briten keine unfairen Standortvorteile verschaffen oder mit importierten Billigwaren durch die Hintertür Irland den EU-Binnenmarkt fluten - denn den will Großbritannien ja nach der Übergangsphase verlassen, um wirtschaftlich freie Hand zu bekommen. Wie bisher schon soll es einige Sonderregeln für Nordirland geben, etwa für Lebensmittelkontrollen zum Seuchenschutz.
Das alles ist eine Notfall- beziehungsweise Garantieklausel, im Englischen „Backstop“ genannt. Sie gilt für den Fall, dass man bei der Gestaltung der künftigen Beziehungen zwischen der EU und Großbritannien keine bessere Lösung findet. Die Bedingungen dieser künftigen Partnerschaft sind offen. Dazu soll vor dem Austritt nur eine recht knappe politische Erklärung beschlossen werden. Der Vertrag soll in der Übergangsphase ausgehandelt werden.
Das ist sehr ungewiss. Schon die Zustimmung des Kabinetts kostete May am Mittwoch Stunden, sie sprach von einer sehr schwierigen Entscheidung. Am Donnerstag will sie im Unterhaus sprechen, und dort ist der Widerstand groß. Für die DUP ist der Kompromissvorschlag schwierig, weil einzelne Bestimmungen eben doch nur für Nordirland gelten würden. Auch die Brexiteers haben große Bauchschmerzen: Die Befürworter eines glatten Bruchs befürchten, das Provisorium könnte zur Dauerlösung werden. Ein einseitiger Ausstieg Großbritanniens wäre ausgeschlossen. Zudem kritisieren sie, dass Großbritannien - solange der Backstop in Kraft ist - keinerlei Mitspracherecht über die EU-Regeln haben wird, denen es unterworfen wird. May wirbt dennoch dafür in der Erkenntnis, dass ein chaotischer Brexit im März für Bürger und Unternehmen sehr schädlich wäre.
Die Botschafter der 27 bleibenden EU-Staaten berieten ihrerseits am Mittwoch stundenlang über den Textvorschlag. Schon vor der Sitzung hieß es aber, in Brüssel dürfte es keine größeren Schwierigkeiten für den Deal geben - sofern er in London durchgeht.
Nach der Zustimmung des britischen Kabinetts beraten in Brüssel in den nächsten Tagen die EU-Staaten über den Vertragstext. Halten sie und EU-Unterhändler Michel Barnier die Ergebnisse für ausreichend, könnte EU-Ratschef Donald Tusk zum Brexit-Sondergipfel am oder kurz nach dem 25. November laden. Danach bliebe die größte Hürde: die Abstimmung im britischen Parlament.
Und Barnier machte klar, dass Großbritannien und Nordirland mit der EU bis auf weiteres in einer sogenannten Zollvereinbarung verbunden bleiben werden, um eine „harte“ Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland zu vermeiden. Der Entwurf sieht vor, dass diese Regelung nach dem offiziellen Austrittstermin am 29. März 2019 für eine Übergangsperiode von 21 Monaten gelten soll und notfalls auch verlängert werden kann.
Wie lange eine solche Verlängerung dauern könnte, wollte Barnier auf Nachfrage allerdings nicht konkretisieren. Insofern ist das Ende offen.
Der EU-Chefunterhändler signalisierte gleichzeitig, dass eine Zollunion die Basis für das künftige Freihandelsabkommen zwischen der EU und Großbritannien bilden dürfte. Ferner wird deutlich, dass dem Europäischen Gerichtshof weiterhin Zuständigkeiten im britisch-europäischen Verhältnis eingeräumt werden sollen - etwas was die Briten bisher rundweg ablehnten.
Last but not least wich Barnier der Frage aus, was geschehen würde, wenn das britische Unterhaus den vorliegenden Scheidungsentwurf durchfallen lassen sollte.
Ein No-Deal-Brexit ist also keineswegs vom Tisch.
Mit Material von dpa