Der bevorstehende Brexit veranlasst die Regierung in London zu einem drastischen wirtschaftspolitischen Kurswechsel. Die Staatsschulden explodieren, unter Premierministerin Theresa May setzt das Land nun auf eine kreditfinanzierte expansive Fiskalpolitik und Rezepte des britischen Ökonomen John Maynard Keynes: Zusätzliche Infrastrukturausgaben sollen die erwarteten negativen Folgen des EU-Austritts abfedern. Bei der Vorlage seines ersten Haushaltsentwurfs seit dem EU-Referendum im Juni kassierte der britische Schatzkanzler Philip Hammond das Ziel seines Vorgängers George Osborne, bis zum Ende der Legislaturperiode im Jahr 2020 ein Haushaltsplus von zehn Milliarden Pfund zu erzielen, prognostiziert wird stattdessen ein Defizit von knapp 30 Milliarden Pfund.
Alles in allem plant die Regierung über die nächsten fünf Jahre 122 Milliarden Pfund (143 Milliarden Euro) mehr an Schulden aufnehmen als noch im März bei der letzten Haushaltsvorlage geplant. „Das Brexit-Votum wird den Lauf der britischen Geschichte verändern“, sagte Hammond. Das zeigt sich bereits: Im Fiskaljahr 2017/18 werden die Staatschulden nach heutigem Stand auf knapp 90 Prozent der jährlichen Wirtschaftskraft steigen. Wann wieder ein ausgeglichener Haushalt angestrebt wird, ist völlig ungewiss, denn der Finanzminister beließ es bei der vagen Aussage, dieses Ziel werde in der nächsten Legislaturperiode, die 2020 beginnt, angepeilt, „so bald dies praktikabel ist“. Volkswirte meinen, dieses Versprechen sei nichts wert.
Mit einer strikten Sparpolitik hatte Hammonds Vorgänger George Osborne das Haushaltsdefizit seit 2010 von zehn Prozent des BIP um mehr als die Hälfte gedrückt. Hammond verkündete keine neuen Sparmaßnahmen, er will die negativen Folgen des bevorstehenden Austritts aus der EU stattdessen mit einem neuen Infrastrukturprogramm sowie zusätzlichen Ausgaben für Forschung und Entwicklung abmildern. 23 Milliarden Pfund sind in den nächsten fünf Jahren allein dafür eingeplant und ab 2020 sollen jedes Jahr zusätzlich zwei Milliarden Pfund für Forschung und Entwicklung aus den Staatstöpfen fließen.
Die wichtigsten Infos zum Brexit-Referendum
Brexit ist ein Kunstwort aus Britain und Exit (Austritt). Im Juni 2012 schrieb das britische Magazin "Economist" erstmals von der Möglichkeit eines "Brixit". Danach etablierte sich in der Presse die Version "Brexit". Vorbild dieser Wortschöpfung war der Begriff "Grexit", der sich auf dem Höhepunkt der Griechenland-Krise etablierte. Gemeint war damit aber nur das - mögliche - Ausscheiden Griechenlands aus der Eurozone.
Die Abstimmung wurde den Wählern von Premier David Cameron versprochen - seine Tory-Partei war damit in den Wahlkampf zur Unterhauswahl 2015 gezogen. Cameron, der selbst für die EU-Mitgliedschaft eintritt, wollte parteiinternen EU-Skeptikern damit den Wind aus den Segeln nehmen. Schon seit Jahren gab es parteiintern die Forderung nach einer Befragung des Volkes zum Verbleib in der EU. Die Unzufriedenheit mit der Zuwanderungspolitik der europäischen Partner bestärkte viele Briten in ihrer Ablehnung gegenüber der EU. Der Kampagne war ein Machtkampf mit der Europäischen Union voraus gegangen. Bereits 2011 hatte Cameron seine Zustimmung zum EU-Fiskalpakt verweigert und kurz darauf mit einem Veto zur mittelfristigen Finanzplanung der EU gedroht. In harten Verhandlungen rang Cameron den europäischen Partnern Zugeständnisse ab, etwa beim für den Finanzplatz London so wichtigen Thema der Bankenregulierung.
Befürworter eines Brexit wie der ehemalige Bürgermeister Londons, Boris Johnson, argumentieren, dass die EU für Großbritannien als drittgrößter Nettozahler ein Verlustgeschäft sei. Ein weiteres Argument ist die Kontrolle über die Grenzen. Unionsbürger haben das Recht, sich im Königreich niederzulassen. Derzeit leben und arbeiten dort mehr als zwei Millionen Menschen aus anderen EU-Ländern. Sie belasten angeblich die sozialen Sicherungssysteme - Studien widerlegen dies jedoch. Die in den Augen vieler Briten ausufernde Regulierung durch Brüssel sorgt zudem für Unmut. Brexit-Befürworter halten die EU außerdem für nicht ausreichend demokratisch legitimiert und fordern die Rückbesinnung auf nationale Souveränität.
Die Anhänger des EU-Verbleibs warnen in erster Linie vor wirtschaftlichen Konsequenzen. Einem Gutachten des britischen Finanzministeriums zufolge würde der Brexit jeden Haushalt in Großbritannien 4300 Pfund pro Jahr kosten. Der Grund: Das Land müsste neue Freihandelsabkommen abschließen, Investitionen aus Drittstaaten könnten zurückgehen und Banken könnten nach Kontinentaleuropa abwandern. Die Folge wäre eine Rezession.
Die Wahllokale sind am Donnerstag von 07.00 Uhr morgens bis 22.00 Uhr britischer Zeit geöffnet - also von 08.00 bis 23.00 Uhr deutscher Zeit. Nur in Gibraltar schließen die Wahllokale wegen der Zeitverschiebung eine Stunde früher. Danach beginnt die Auszählung. Nach bisherigem Stand wird es nach Schließung der Wahllokale weder Prognosen noch Hochrechnungen geben. Im Laufe der Nacht werden aber die Ergebnisse aus den einzelnen Wahlbezirken nach und nach bekannt werden. Die meisten Resultate dürften zwischen 03.00 und 05.00 Uhr deutscher Zeit vorliegen. Ein Endergebnis wird am Freitag um die Frühstückszeit erwartet - wenn es nicht wegen Pannen zu Verzögerungen kommt.
Unter anderem setzt die Regierung auf die Einführung der 5G-Technologie im Mobilfunk sowie auf eine Modernisierung des Transportwesens. Mit Beginn der nächsten Dekade wird mindestens ein Prozent des BIP für die Modernisierung der Infrastruktur aufgewandt.
„Unsere Aufgabe ist es, unsere Wirtschaft widerstandsfähig zu machen, sie auf das Verlassen der EU vorzubereiten und sie für die anschließende Übergangsphase fitzumachen“, beteuerte der Finanzminister. Die offiziellen Wachstumsprognosen fürs nächste Jahr wurden von 2,2 auf 1,4 Prozent nach unten korrigiert. Gleichzeitig aber gab der Minister bekannt, dass das Wachstum dieses Jahr mit einem Plus von 2,1 Prozent geringfügig besser sein könnte als noch im März erwartet.
Tatsache ist, dass die lockere Geldpolitik seit dem EU-Referendum, die Abwertung des Pfundes um rund 20 Prozent und der immer noch bestehende Zugang zum EU-Binnenmarkt dazu führte, dass die britische Konjunktur den Brexit-Schock bisher sehr gut überstand. Das Bruttoinlandsprodukt wuchs im dritten Quartal mit 0,5 Prozent weit besser als erwartet.
Die Bank of England (BoE) hatte Anfang August den Leitzins auf das historische Tief von 0,25 Prozent gesenkt und die Geldschleusen weiter geöffnet. Glaubt man den offiziellen britischen Prognosen so wird sich die Konjunktur auf der Insel nach einem vorübergehenden Einbruch mittelfristig stabilisieren: 2019 – dem Jahr in dem der Brexit wohl vollzogen wird - soll die Wirtschaft um 2,1 Prozent zulegen.
"Meine Regierung ist für alle da, nicht nur für die Privilegierten"
Das Ende der Sparpolitik von Ex-Finanzminister Osborne ist eine direkte Folge aus dem EU-Referendum: Zahlreiche Wähler aus ärmeren Einkommensschichten mit niedrigerem Bildungsniveau, die in Regionen außerhalb kosmopolitischer Metropolen wie London leben, fühlten sich unverstanden, von den Errungenschaften der Globalisierung und des Liberalismus ausgeschlossen, rebellierten gegen den Status Quo und stimmten deshalb für den Brexit. May hatte daher wiederholt versprochen, sie werde sich um die Familien kümmern, die gerade mal so über die Runden kämen.
„Meine Regierung ist für alle da, nicht nur für die Privilegierten“, beteuerte sie in den letzten Monaten immer wieder. Hammond versucht dem Rechnung zu tragen indem er eine Aufstockung des Mindestlohns um 30 Pence auf 7,50 Pfund (8,75 Euro) bekannt gab. Geringverdiener sollen zusätzlich entlastet werden, indem die Einkommensschwelle für den Start der Lohnsteuerpflicht ab April angehoben wird. Der Schatzkanzler pumpt außerdem 1,4 Milliarden Pfund in den sozialen Wohnungsbau und kappte die Maklergebühren für Mieter. Mit all diesen Maßnahmen will Hammond die Bezieher kleinerer und mittlerer Einkommen entlasten.
Er kündigte auch an, dass Sozialhilfeempfänger, die einen Arbeitsplatz gefunden haben, nicht so viel von ihrer Stütze verlieren werden, wie bisher geplant. Doch angesichts der angespannten Haushaltslage hatte er nicht viel Spielraum.
Anders als erwartet kündigte der Finanzminister auch keine Senkung der Körperschaftssteuer auf 15 Prozent an, er bestätigte statt dessen nur, was bereits sein Vorgänger Osborne angekündigt hatte: die Abgabe soll bis 2020 von heute 20 Prozent auf 17 Prozent sinken. Teile der Wirtschaft waren enttäuscht, weil er keine neuen Anreize für Investitionen ankündigte, obwohl er die niedrige Produktivität beklagt hatte: „Deutsche und amerikanische Arbeiter sind um 30 Prozent produktiver als ihre britischen Kollegen“, so Hammond.
Der Generaldirektor des Verbandes der leitenden Angestellten (IoD), Simon Walker, kritisierte daher, der neue Haushaltsplan biete der Industrie nicht genug und sei „nicht ehrgeizig genug“.
Hammond erwähnte auch nicht, welche Pläne die Regierung im Hinblick auf die bevorstehenden Brexit-Verhandlungen verfolgt. Dabei ist dies das Thema, das die Wirtschaft am meisten umtreibt. Das wurde bereits bei der Jahrestagung des Industrieverbandes CBI am Montag deutlich. Kühl reagierten die zahlreichen Unternehmer, die sich in Londons Edelhotel Grosvenor House versammelt hatten auf eine nichtssagende Rede von May, die erneut die entscheidenden Antworten schuldig blieb. Einer zuckte nur die Achseln, eine Reihe von anderen Managern machten ihrer Frustration über die mangelnden Informationen über die bevorstehenden Brexit-Gespräche anschließend im kleinen Kreis Luft.
Denn Großbritanniens Unternehmer sorgen sich wegen der anhaltenden Ungewißheit über das künftige Verhältnis zur EU, sie wollen wissen, ob die Regierung ihnen den Zugang zum Binnenmarkt sichern will und vor allem wünschen sie sich Übergangsfristen, um einen möglichst reibungslosen Wechsel zu ermöglichen. „Wir benötigen mehr Klarheit – vor allem aber: einen Plan“, forderte CBI-Präsident Paul Drechsler und fügte hinzu: „Was passiert am Tag nach dem Brexit? Wenn die Uhr Mitternacht schlägt und die zweijährigen Verhandlungen vorbei sind?“ Die Wirtschaft überlege, was ein Klippenrand-Szenario bedeuten würde: eine plötzliche und drastische Veränderung der Handelskonditionen. „Sollte das passieren, könnten sich die Firmen in einem regulatorischen Niemandsland wiederfinden“, warnte Drechsler
Für viele Unternehmer ist auch die drastische Abwertung der britischen Währung nach dem Brexit-Votum im Juni ein Problem. Zwar profitieren davon die Exporteure, doch gleichzeitig haben sich die Importe verteuert. Diese Preiserhöhungen an die Kunden weiterzugeben ist nicht leicht. Dennoch ist es nur eine Frage der Zeit, bis die britischen Supermärkte und auch die deutschen Discounter Aldi und Lidl ihre Preise auf der Insel anheben. Das aber wird die Inflation anheizen, die Bank of England prognostiziert bereits einen Anstieg der Teuerungsrate.