Brexit Zugeständnisse für David Cameron wecken Begehrlichkeiten

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Leistung nur nach Gegenleistung

Zwar wird im Arbeitsministerium bis heute betont, dass es sich bei der Sozialhilfe zuallererst um eine nationale Frage handle, ausgelöst durch ein deutsches Gericht, die deshalb hier zu lösen sei. Doch aus Nahles Umfeld heißt es auch, die Abstimmung mit der Kanzlerin bei diesem Thema sei inzwischen eng.

Was die Briten an der EU stört
Nationale IdentitätAls ehemalige Weltmacht ist Großbritanniens Politik noch immer auf Führung ausgelegt. London ist gewohnt, die Linie vorzugeben, statt sich mühsam auf die Suche nach Kompromissen zu begeben. „London denkt viel mehr global als europäisch“, sagt Katinka Barysch, Chefökonomin beim Centre for European Reform in London. Die Angst, von EU-Partnern aus dem Süden Europas noch tiefer in die ohnehin schon tiefe Krise gezogen zu werden, schürt zusätzliche Aversionen. Quelle: dpa
Finanztransaktionssteuer und Co.Die Londoner City ist trotz massiven Schrumpfkurses noch immer die Lebensader der britischen Wirtschaft. Großbritannien fühlt sich von Regulierungen, die in Brüssel ersonnen wurden, aber die City treffen, regelrecht bedroht. „Regulierungen etwa für Hedgefonds oder die Finanztransaktionssteuer treffen London viel mehr als jeden anderen in Europa“, sagt Barysch. Allerdings hatte die Londoner City in der Finanzkrise auch mehr Schaden angerichtet als andere Finanzplätze. Quelle: dpa
Regulierungen des ArbeitsmarktsGroßbritannien ist eines der am meisten deregulierten Länder Europas. Strenge Auflagen aus Brüssel, etwa bei Arbeitszeitvorgaben, stoßen auf wenig Verständnis auf der Insel. „Lasst uns so hart arbeiten wie wir wollen“, heißt es aus konservativen Kreisen. Quelle: dapd
EU-BürokratieDie Euroskeptiker unter den Briten halten die Bürokratie in Brüssel für ein wesentliches Wachstumshemmnis. Anti-Europäer in London glauben, dass Großbritannien bilaterale Handelsabkommen mit aufstrebenden Handelspartnern in aller Welt viel schneller aushandeln könne als der Block der 27. Die Euroskeptiker fordern auch, dass der Sitz des Europaparlaments in Straßburg (hier im Bild) abgeschafft wird und die Abgeordneten nur noch in Brüssel tagen. Quelle: dpa
MedienDie britische Presse ist fast durchgehend europafeindlich und prägt das Bild der EU auf der Insel. Das hat auch politische Wirkung. „Ich muss meinen Kollegen in Brüssel dauernd sagen, sie sollen nicht den 'Daily Express' lesen“, zitiert die „Financial Times“ einen britischen Minister. Quelle: dpa

Zuletzt verknüpfte Nahles bei einem Besuch ihrer französischen Amtskollegin die deutschen Absichten direkt mit den britischen Wünschen, EU-Bürger mehrere Jahre von Sozialleistungen auszuschließen. „Wir sind bereit, Lösungen für die Frage der Briten zu finden, die die Frage der Sozialleistungen für ausländische EU-Bürger aufgreifen. Da gibt es auch aus unserer Sicht Regelungslücken, wenn es darum geht, bestehende Fehlanreize zu vermeiden“, so Nahles.

Für die Verhandlungen mit Großbritannien könnte dieser Sinneswandel entscheidend sein. Denn um die Briten vom Verbleib in der Union zu überzeugen, werden ein paar Sonderregeln nach dem Prinzip der Briten-Rabatte in den Achtzigerjahren nicht genügen. Die Wähler müssen zu der Überzeugung gelangen, dass die Union wirklich dabei ist, ihren Charakter zu verändern, nicht nur in Großbritannien. Zwar ist die Ablehnung Brüssels nirgends so ausgeprägt wie auf der Insel, doch auch in anderen Ländern Europas sinkt das Ansehen der EU rapide.

Darum will Angela Merkel die Briten in der EU halten

Nun liegt mit der Notbremse erstmals ein Instrument zumindest zum Teilausstieg auf dem Tisch, das zwar stark auf Großbritannien zugeschnitten ist, das aber jedes Mitgliedsland nutzen könnte. Und mitten in der Flüchtlingskrise ist die Neigung dazu selbst in Deutschland ausgeprägt.

Wenn Ministerin Nahles etwa darauf hinweist, Kommunen könnten nicht unbegrenzt für mittellose EU-Ausländer sorgen, vergisst sie nie den Zusatz, das sei ja auch nie die Idee der EU-Freizügigkeit gewesen. Das einflussreiche CDU-Präsidiumsmitglied Julia Klöckner wirbt im Wahlkampf in Rheinland-Pfalz um Ähnliches. Und CSU-Mann Manfred Weber, ranghöchster Konservativer im Europaparlament, sieht Ausnahmemöglichkeiten etwa beim Kindergeld für EU-Ausländer gar als eine Frage der Gerechtigkeit an.

Leistung nur nach Gegenleistung

In Deutschland könnte das Prinzip in Zukunft heißen: Leistung nur nach Gegenleistung. Sozialhilfe erhielten nur noch EU-Bürger, die in Deutschland auch längere Zeit gearbeitet hätten. Im Arbeitsministerium hegt man Sympathien für eine solche Regelung, doch der Teufel stecke im Detail, heißt es. Viel hänge etwa an der Frage, wie man Beschäftigung genau definiere. Der Sozialstaat solle zwar nicht jedem sofort offen stehen, aber der Zugang dazu dürfe eben auch nicht kategorisch ausgeschlossen werden, sonst drohe eine unlautere Diskriminierung.

Knifflig, ja. Auch, weil es nicht nur um Politisches geht. Passen die Verantwortlichen nicht auf, könnte der Europäische Gerichtshof die schöne neue nationale Flexibilität rasch wieder kippen.

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