Zwar wird im Arbeitsministerium bis heute betont, dass es sich bei der Sozialhilfe zuallererst um eine nationale Frage handle, ausgelöst durch ein deutsches Gericht, die deshalb hier zu lösen sei. Doch aus Nahles Umfeld heißt es auch, die Abstimmung mit der Kanzlerin bei diesem Thema sei inzwischen eng.
Zuletzt verknüpfte Nahles bei einem Besuch ihrer französischen Amtskollegin die deutschen Absichten direkt mit den britischen Wünschen, EU-Bürger mehrere Jahre von Sozialleistungen auszuschließen. „Wir sind bereit, Lösungen für die Frage der Briten zu finden, die die Frage der Sozialleistungen für ausländische EU-Bürger aufgreifen. Da gibt es auch aus unserer Sicht Regelungslücken, wenn es darum geht, bestehende Fehlanreize zu vermeiden“, so Nahles.
Für die Verhandlungen mit Großbritannien könnte dieser Sinneswandel entscheidend sein. Denn um die Briten vom Verbleib in der Union zu überzeugen, werden ein paar Sonderregeln nach dem Prinzip der Briten-Rabatte in den Achtzigerjahren nicht genügen. Die Wähler müssen zu der Überzeugung gelangen, dass die Union wirklich dabei ist, ihren Charakter zu verändern, nicht nur in Großbritannien. Zwar ist die Ablehnung Brüssels nirgends so ausgeprägt wie auf der Insel, doch auch in anderen Ländern Europas sinkt das Ansehen der EU rapide.
Darum will Angela Merkel die Briten in der EU halten
Angela Merkel und der britische Premier David Cameron wollen gemeinsam verhindern, dass Brüssel noch mehr Macht bekommt. Der Kampf gegen die EU-Bürokratie eint Berlin und London.
Soll es je eine echte gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU geben, geht das nur mit den Briten. Schließlich sind sie ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat und im Besitz von Atomwaffen.
In der Wirtschaftspolitik hat Merkel mit den Briten mehr gemeinsame liberale Prinzipien als mit dem französischen Sozialisten François Hollande. Auch bei TTIP und Freihandel verbindet Merkel viel mit den britischen Konservativen.
Sollten die Briten austreten, würden in den skandinavischen Ländern und in den Niederlanden ebenfalls die Anti-EU-Strömungen stärker. Und auch in Deutschland bekämen die EU-Gegner Auftrieb.
Ohne die Briten würde der europäische Binnenmarkt kleiner und schwächer – ein Nachteil für die deutschen Unternehmen, die auf der Insel über 120 Milliarden Euro investiert haben, mehr als doppelt so viel wie in Frankreich und China.
Nun liegt mit der Notbremse erstmals ein Instrument zumindest zum Teilausstieg auf dem Tisch, das zwar stark auf Großbritannien zugeschnitten ist, das aber jedes Mitgliedsland nutzen könnte. Und mitten in der Flüchtlingskrise ist die Neigung dazu selbst in Deutschland ausgeprägt.
Wenn Ministerin Nahles etwa darauf hinweist, Kommunen könnten nicht unbegrenzt für mittellose EU-Ausländer sorgen, vergisst sie nie den Zusatz, das sei ja auch nie die Idee der EU-Freizügigkeit gewesen. Das einflussreiche CDU-Präsidiumsmitglied Julia Klöckner wirbt im Wahlkampf in Rheinland-Pfalz um Ähnliches. Und CSU-Mann Manfred Weber, ranghöchster Konservativer im Europaparlament, sieht Ausnahmemöglichkeiten etwa beim Kindergeld für EU-Ausländer gar als eine Frage der Gerechtigkeit an.
Leistung nur nach Gegenleistung
In Deutschland könnte das Prinzip in Zukunft heißen: Leistung nur nach Gegenleistung. Sozialhilfe erhielten nur noch EU-Bürger, die in Deutschland auch längere Zeit gearbeitet hätten. Im Arbeitsministerium hegt man Sympathien für eine solche Regelung, doch der Teufel stecke im Detail, heißt es. Viel hänge etwa an der Frage, wie man Beschäftigung genau definiere. Der Sozialstaat solle zwar nicht jedem sofort offen stehen, aber der Zugang dazu dürfe eben auch nicht kategorisch ausgeschlossen werden, sonst drohe eine unlautere Diskriminierung.
Knifflig, ja. Auch, weil es nicht nur um Politisches geht. Passen die Verantwortlichen nicht auf, könnte der Europäische Gerichtshof die schöne neue nationale Flexibilität rasch wieder kippen.