Brexit Nach der Abstimmung beginnt der Kampf um Europa

Egal wie die Briten abstimmen, die EU-Gegner in einigen Mitgliedstaaten werden in jedem Fall gestärkt. Und in Brüssel geht der politische Kampf nach dem Referendum erst richtig los.

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Die bekanntesten Brexit-Gegner und -Befürworter
 Christine Lagarde Quelle: dpa
David Cameron Quelle: REUTERS
George Osborne Quelle: REUTERS
 Jean-Claude Juncker Quelle: REUTERS
Michael Gove Quelle: REUTERS
Donald Trump Quelle: AP
Barack Obama Quelle: AP

Die Erschütterung Europas durch das britische Referendum wird, wenn am Freitagmorgen das Ergebnis bekannt wird, keinesfalls enden, sondern erst voll beginnen. Und zwar auch wenn die Briten sich für den Verbleib entscheiden.

Fast egal wie es ausgeht, das heutige Referendum der Briten über den Austritt oder Verbleib wird als schwarzer Tag in die Geschichte der Europäischen Union eingehen. Die große Mehrheit der politischen Analysten in Brüssel sieht allein die Tatsache, dass es stattfindet, schon als Schwächung der EU. Der zentrale Grund dafür: Die politischen Zentrifugalkräfte, die viele Staaten Europas von der EU wegtreiben, werden auch bei einem Votum der Briten für den Verbleib deutlich stärker werden.

„Ob Brexit oder nicht – es wird laut und kämpferisch werden in der EU“, sagt Roland Freudenstein vom Brüsseler Thinktank Martens Centre. „Das Referendum wird massive Auswirkungen auf die europapolitische Debatte in rund der Hälfte der EU-Mitgliedsstaaten haben. Vor allem in Frankreich, den Niederlanden und Dänemark  wird es Forderungen nach eigenen Volksabstimmungen geben“.

Freudenstein vermutet, dass sich die jeweiligen nationalen Eliten dem nicht werden verschließen können: „Der Druck wird riesig sein, weil eine Mehrheit der Bevölkerung zumindest gefragt werden will, auch wenn sie nicht für den Austritt ist.“ Jan Techau vom Carnegie Centre geht davon aus, dass Marine Le Pen, Chefin des französischen Front National zu den Profiteuren des britischen Referendums gehören wird: „Für Le Pen sind ähnlich wie für die britischen EU-Gegner Fragen der Souveränität sehr wichtig. Das ist ein Bauch Argument, das auch in Frankreich gut verfängt.“ Der FN hat bereits ein Referendum über Frankreichs Mitgliedschaft in der Eurozone angeregt.

In den Niederlanden könnte der Rechtspopulist Geert Wilders mit seiner „Partei für die Freiheit“ ebenso ein Referendum fordern, wie in Dänemark die „Dänische Volkspartei“. Der Erfolg dürfte in beiden Ländern eher unwahrscheinlich sein. In den Niederlanden haben nach einer aktuellen Umfrage 46 Prozent eine negative Sicht auf die EU, weniger als in Deutschland (48) und Frankreich (61). Aber vermutlich ginge es den genannten Politikern ohnehin eher um etwas anderes: „Sie wollen Volksabstimmungen als Mobilisierungsinstrument nutzen und zum ersten Mal in einer für die Nationen entscheidenden Frage eine Seite besetzen“, sagt Freudenstein.

"Lasst uns mit denen nicht alleine"

In Frankreich, den Niederlanden und Dänemark wird Großbritanniens möglicher Abschied nicht nur bei den EU-skeptischen Populisten Wirkung entfalten, sondern auch bei den etablierten politischen Eliten. Gerade in Paris wird Großbritannien als einziges Land geschätzt, das in weltpolitischen Fragen einen strategischen Blick hat – wie Frankreich selbst. Beide Länder haben als frühere Kolonial- und Großmächte ähnliche historische Erfahrungen und entsprechende Horizonte. Vor allem militärisch sind Frankreich und Großbritannien eng miteinander verbunden.

„Das Bedauern im Falle des Brexit würde daher auch in Frankreich überwiegen“, sagt Techau, „nur in ordnungs- und wirtschaftspolitischen Fragen wäre man vielleicht hier und da erleichtert.“ Laut Umfrage würden 32 Prozent der Franzosen den Abschied Großbritanniens aus der EU positiv aufnehmen. Der höchste Wert von zehn untersuchten Ländern. Der vermutliche Grund: Die französischen Eliten - und nicht nur die - sind sehr viel staatsgläubiger gesinnt als die britischen und misstrauen traditionell der angelsächsischen  Wirtschaftsmentalität.

Die wiederum steht der deutschen und niederländischen deutlich näher. Die Deutschen, so Freudenstein, hätten Angst davor, im Falle des Brexit von einem „Club Med“ in wirtschaftspolitischen Fragen überstimmt zu werden. „Wir würden uns mit den Franzosen allein gelassen fühlen.“ Das gelte aber auch für die Franzosen in anderen Fragen: „Überhaupt pilgern alle möglichen Leute derzeit nach London und sagen: Lasst uns nicht mit den xy alleine.“

Was die Briten an der EU stört
Mittelstand könnte beim Brexit-Referendum am 23. Juni den Ausschlag geben Quelle: dpa, Montage
Nationale IdentitätAls ehemalige Weltmacht ist Großbritanniens Politik noch immer auf Führung ausgelegt. London ist gewohnt, die Linie vorzugeben, statt sich mühsam auf die Suche nach Kompromissen zu begeben. „London denkt viel mehr global als europäisch“, sagt Katinka Barysch, Chefökonomin beim Centre for European Reform in London. Die Angst, von EU-Partnern aus dem Süden Europas noch tiefer in die ohnehin schon tiefe Krise gezogen zu werden, schürt zusätzliche Aversionen. Quelle: dpa
Finanztransaktionssteuer und Co.Die Londoner City ist trotz massiven Schrumpfkurses noch immer die Lebensader der britischen Wirtschaft. Großbritannien fühlt sich von Regulierungen, die in Brüssel ersonnen wurden, aber die City treffen, regelrecht bedroht. „Regulierungen etwa für Hedgefonds oder die Finanztransaktionssteuer treffen London viel mehr als jeden anderen in Europa“, sagt Barysch. Allerdings hatte die Londoner City in der Finanzkrise auch mehr Schaden angerichtet als andere Finanzplätze. Quelle: dpa
Regulierungen des ArbeitsmarktsGroßbritannien ist eines der am meisten deregulierten Länder Europas. Strenge Auflagen aus Brüssel, etwa bei Arbeitszeitvorgaben, stoßen auf wenig Verständnis auf der Insel. „Lasst uns so hart arbeiten wie wir wollen“, heißt es aus konservativen Kreisen. Quelle: dapd
EU-BürokratieDie Euroskeptiker unter den Briten halten die Bürokratie in Brüssel für ein wesentliches Wachstumshemmnis. Anti-Europäer in London glauben, dass Großbritannien bilaterale Handelsabkommen mit aufstrebenden Handelspartnern in aller Welt viel schneller aushandeln könne als der Block der 27. Die Euroskeptiker fordern auch, dass der Sitz des Europaparlaments in Straßburg (hier im Bild) abgeschafft wird und die Abgeordneten nur noch in Brüssel tagen. Quelle: dpa
MedienDie britische Presse ist fast durchgehend europafeindlich und prägt das Bild der EU auf der Insel. Das hat auch politische Wirkung. „Ich muss meinen Kollegen in Brüssel dauernd sagen, sie sollen nicht den 'Daily Express' lesen“, zitiert die „Financial Times“ einen britischen Minister. Quelle: dpa

Besonders stark ist dieses Gefühl in den Niederlanden verwurzelt. „Die Niederlande sind auf dem gesamten Kontinent das am stärksten auf Großbritannien fixierte Land“, sagt Techau. „Die würden am meisten leiden, denn ihre Weltsicht ist angelsächsisch geprägt. Sie sehen sich mentalitätsmäßig eher nach England als nach Deutschland orientiert, obwohl sie tatsächlich wirtschaftlich voll von Deutschland und kaum von Großbritannien abhängen.“

Die Niederlande waren schon bei der Gründung der damaligen EWG in den 1950er Jahren sehr viel weniger begeisterte Europäer als ihre belgischen Nachbarn, bei denen auch heute kaum Rufe nach einem Referendum zu hören sind. Vor 1973 waren die Niederlande der wichtigste Fürsprecher für den Beitritt Großbritanniens. Im Falle eines Brexit würden sich die Niederländer eher zähneknirschend an Deutschland orientieren, vermutet Techau, so wie sie es immer getan haben. „Wenn es darauf ankam, sind sie immer mit Deutschland gegangen, weil es ökonomisch geboten war. Aber stets in dem Wissen, dass es auch noch eine britische Alternative gäbe“, sagt Techau. 

Motivation für Sonder-Deals

Ähnliches gilt für Dänemark. Das kleine Land trat gemeinsam mit Großbritannien der Gemeinschaft bei und ist ähnlich wie die Briten stets auf eine Sonderrolle bedacht. Auch wenn die oft eher symbolischer Natur als substantiell ist. So ist Dänemark aufgrund eines Referendums im Jahre 2000 zwar nicht Mitglied der Eurozone geworden, hat seine Krone allerdings durch Beibehalten des Wechselkursmechanismus der Vor-Euro-Epoche an die Gemeinschaftswährung gekoppelt. 

Gerade weil es für die kleineren Länder in der EU de facto fast unumgänglich ist, mit den großen Ländern wie Deutschland mitzuziehen, ist es für sie auf der symbolischen Ebene bedeutsam, die eigene Unabhängigkeit herausstellen zu können. Die Nichtmitgliedschaft in der Eurozone sei, so Techau, für den Seelenhaushalt der Dänen wichtig. „Denn man kann damit zeigen, dass man nicht nur der Pudel Deutschlands ist.“

Gerade ein Land wie Dänemark könnte nun durch das Referendum motiviert werden, diese Politik auf die Spitze zu treiben und nach Sonder-Arrangements zu streben - nach dem Muster des Deals, den Cameron vor dem Referendum ausgehandelt hat, um seinen euroskeptischen Wählern und Parteifreunden zu imponieren. „Das britische Modell, alte Verpflichtungen, die zu hause nicht mehr annehmbar scheinen, neu zu verhandeln und dies in einem nationalen Referendum ratifizieren zu lassen, ist extrem attraktiv und nachahmbar für andere EU-Länder“, schreibt Jonathan Eyal vom Royal United Services Institute.

 

Mit seiner alten europäisch-idealistischen Haltung dürfte Deutschland dann noch einsamer dastehen als ohnehin schon. Die deutsche Überzeugung, dass es zwischen nationalen Interessen und europäischen keinen Unterschied gebe, teilten allenfalls Italien, Belgien und Luxemburg, wo es heute noch Mehrheiten für eine starke, föderale EU gibt. Überall sonst wurde die EU von Anfang an eher als Forum zur Verhandlung nationaler Interessen angesehen. Und in dieser Einstellung dürften sich durch das britische Referendum und Camerons Politik die meisten Länder bestätigt sehen: Es lohnt sich schließlich offenbar mit der Faust auf den Tisch zu hauen und unter Androhung des Austritts Sonderwünsche durchzusetzen. 

"Immer engere Union" oder Schacher-Politik

Zu den Auswirkungen des britischen Referendums auf die Europapolitik innerhalb der anderen Mitgliedstaaten kommt allerdings vermutlich noch eine Verschärfung der Debatte auf EU-Ebene.  Ein Streit, der bis zur Entscheidung in Großbritannien bewusst hintangestellt wurde, um im dortigen Abstimmungskampf die Wogen nicht noch höher schlagen zu lassen.

Es geht um den Streit zwischen den EU-Föderalisten vom Schlage des Parlamentspräsidenten Martin Schulz, die den Weg zu einer „immer engeren Union“, von dem sich Großbritannien durch Camerons Sonder-Deal ohnehin verabschiedet hat, nun erst recht zielstrebig gehen wollen.

Und auf der anderen Seite jenen in Brüssel und den Hauptstädten, die eher eine intergouvernementale Union wollen. Die also das ganze Projekt neu überdenken und eher Kompetenzen bei den nationalen Regierungen halten wollen. Am Pro und Contra von Begriffen wie der „immer engeren Union“ oder „mehr Europa“ wird sich dieser Streit aufheizen.

Freudenstein vermutet, dass die EU-Föderalisten, deren Ziel letztlich die „Europäische Republik“ (so ein aktueller Buchtitel von Ulrike Guérot) ist, gerade im Falle des britischen Ausstiegs Oberwasser bekommen werden.

Auch in der Bundesregierung würden manche, vielleicht Wolfgang Schäuble oder sogar Kanzlerin Merkel möglicherweise einen Finanzminister für die Eurozone oder ähnliches fordern, schätzt Freudenstein. 

Dass sie sich damit bei den europäischen Völkern – inklusive den Deutschen – beliebter machen, ist unwahrscheinlich. Bevölkerungsmehrheiten für eine weiter vertiefte Union gibt es vermutlich in kaum einem wichtigen Mitgliedsland.

Ulrich Speck von der Transatlantic Academy schlägt daher einen Mittelweg zwischen dogmatischem EU-Föderalismus und nationalistischer Schacher-Politik vor. Der Nationalstaat werde die zentrale Instanz für politische Macht und deren Legitimation bleiben. Aber die Pro-EU-Kräfte müssten viel besser darstellen, dass die EU den Nationalstaaten gute Dienste leistet. Wenn die EU den Weckruf des Referendums nicht erhöre, so Speck, werde sie auseinanderfallen.

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