Skepsis ist also angebracht, auch mit Blick auf die großspurig angekündigten chinesischen Investoren. Chris Williamson, Chefvolkswirt des Finanzdienstleisters Markit Economics, meint: „Es wird für Großbritannien nach dem Austritt aus der EU sehr schwierig werden, Handelsbeziehungen mit China weiter anzukurbeln.“ Chinas Präsident Xi Jinping hat stets betont, dass er sich den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU wünscht. Ein Austritt würde das Land weit weniger attraktiv für die Chinesen machen.
Wo die großen Brexit-Baustellen sind
Seit der konservative Premier David Cameron seinen Rücktritt angekündigt hat, tobt ein Kampf um seine Nachfolge - nicht nur hinter den Kulissen. Als aussichtsreichste Kandidaten gelten Brexit-Wortführer Boris Johnson und Innenministerin Theresa May. Johnson werden die besten Chancen eingeräumt, auch wenn er erbitterte Feinde in der Tory-Fraktion hat. May könnte als Kompromisskandidatin gelten, sie war zwar im Lager der EU-Befürworter, hielt sich aber mit öffentlichen Äußerungen zurück.
Labour-Chef Jeremy Corbyn laufen nach dem Rauswurf seines schärfsten Kritikers Hilary Benn die Mitglieder seines Schattenkabinetts in Scharen davon. Mehr als die Hälfte seines Wahlkampfteams trat bereits zurück. Sie werfen Corbyn vor, nur halbherzig gegen einen EU-Austritt geworben zu haben, und stellen seine Führungsqualitäten in Frage. Dahinter steckt auch die Befürchtung, es könne bald zu Neuwahlen kommen. Viele Labour-Abgeordnete befürchten, mit dem Linksaußen Corbyn an der Spitze nicht genug Wähler aus der Mitte ansprechen zu können. Corbyn war im Spätsommer vergangenen Jahres per Urwahl an die Parteispitze gerückt, hat aber wenig Unterstützung in der Fraktion.
Der scheidende Premier David Cameron kündigte an, die offiziellen Austrittsverhandlungen mit der EU nicht mehr selbst einzuleiten. Der Ablösungsprozess könnte damit frühestens nach Camerons Rücktritt beginnen - womöglich erst im Oktober. Äußerungen anderer britischer Politiker lassen befürchten, dass sich die Briten gern sogar noch mehr Zeit lassen würden. Am allerliebsten würden sie schon vor offiziellen Austrittsverhandlungen an einem neuen Abkommen mit der EU basteln. Brüssel, Berlin und Paris dringen aber auf einen raschen Beginn der Austrittsverhandlungen.
Seit dem Brexit-Votum liegt die Frage nach der schottischen Unabhängigkeit wieder auf dem Tisch. Die Schotten stimmten - anders als Engländer und Waliser - mit einer Mehrheit von 62 Prozent gegen einen Brexit. Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon kündigte in Edinburgh an, Vorbereitungen für ein zweites Unabhängigkeitsreferendum einzuleiten. Boris Johnson deutete jedoch bereits an, dass er als Premierminister da nicht mitspielen würde: „Wir hatten ein Schottland-Referendum 2014 und ich sehe keinen echten Appetit auf ein weiteres in der nahen Zukunft“, schrieb Johnson in einem Gastbeitrag im „Daily Telegraph“. Auch Premierminister David Cameron erteilte einem erneuten Schottland-Referendum eine Absage.
In beiden Teilen der Insel herrscht Sorge, der Brexit könnte dazu führen, dass wieder Grenzkontrollen eingeführt werden und der Friedensprozess gestört wird. Irlands Ministerpräsident Enda Kenny versicherte, seine Regierung arbeite eng mit Belfast und London zusammen, um die Grenzen offenzuhalten. Ähnlich wie in Schottland stimmte auch in Nordirland eine Mehrheit der Wähler gegen den Austritt des Königreichs aus der EU. Die nordirische nationalistische Partei Sinn Fein forderte bereits eine Abstimmung über eine Wiedervereinigung Irlands und Nordirlands.
Das britische Pfund verlor seit dem Brexit-Votum massiv an Wert gegenüber dem Dollar und fiel auf den niedrigsten Stand seit drei Jahrzehnten. Auch die Börsenkurse stürzten zeitweise in den Keller. Der britische Finanzminister George Osborne versuchte am Montag, Sorgen an den Märkten zu zerstreuen. Großbritannien sei auf alles vorbereitet, sagte Osborne. Noch am Tag nach der Brexit-Entscheidung war Notenbank-Chef Mark Carney vor die Kameras getreten und hatte angekündigt, die Bank of England könne bis zu 250 Milliarden Pfund in die Hand nehmen, um weitere Verwerfungen zu verhindern. Trotz allem verlor das Pfund weiter an Wert.
Hinzu kommt: Osborne, ein enger Vertrauter von Premierminister David Cameron, ist ein Finanzminister auf Abruf. Nach Camerons Abschied im September dürfte er nicht Finanzminister bleiben. „Seine Ankündigung ist bedeutungslos. Hier greift ein Kontrollfreak nach dem letzten Strohhalm“, sagt Richard Murphy. Innenministerin Theresa May, die Cameron am heutigen Mittwoch als Premierministerin nachfolgen soll, hat Osbornes Steuerpläne bisher wohlweislich nicht kommentiert.
Dennoch offenbart allein die Debatte über solche Pläne, dass Europa, je nach Sichtweise, auf eine Phase des Steuerwettbewerbs und -egoismus zusteuert. Entsprechend aufmerksam haben deutsche Regierungskreise die britische Ankündigung verfolgt. Früher hat Kanzlerin Angela Merkel zwar selbst für mehr Steuerwettbewerb in Europa geworben. Doch heute ist Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU), verantwortlich für einen Unternehmensteuersatz von knapp 30 Prozent, „not amused“ über die britischen Pläne, wie es aus seinem Umfeld heißt.
Der Minister will sich von Osborne dessen Pläne persönlich erläutern lassen. Es dürfte kein angenehmes Gespräch werden. Schon das aktuelle britische Steuerniveau von 20 Prozent ärgert Schäuble. Nach deutschem Recht beginnt Steuerdumping eines anderen Landes bereits bei einem Satz von weniger als 25 Prozent. Seit Langem versucht Schäuble, Irland zur Anhebung seines Minisatzes zu bewegen. Auch das dürfte Osbornes Initiative erschweren.
Europäischer Mindeststeuersatz
„Ich halte nichts von Steuerdumping“, sekundiert Hessens Finanzminister Thomas Schäfer (CDU), dessen Finanzstandort Frankfurt in direktem Wettbewerb zur Londoner City steht. Schäfer fordert einen „europäischen Mindeststeuersatz“, um „den schädlichen Kampf um den niedrigsten Steuersatz zu verhindern“. So ein Mindestniveau müsste in der EU aber einstimmig beschlossen werden. Und das ist sehr unwahrscheinlich.
Einige Stimmen sind auch dankbar für die britische Vorlage. Lutz Goebel, Präsident des Verbandes der Familienunternehmer, sagt: „Deutschland darf den Ideenwettstreit um Steuermodelle nicht scheuen.“ Auch die Bundesrepublik könne, so Goebels Ableitung, einiges tun. Eine Option: Eigenkapital dem Fremdkapital steuerlich gleichstellen – sprich: die (fiktiven) Zinsen als Betriebsausgabe absetzbar machen – und damit Gewinne wie Eigenkapitalbildung stimulieren.
Immerhin, die vermutlich aus Europa scheidenden Briten haben noch einmal gezeigt, dass sie Debatten in Europa lostreten können. „Dass wir nun über Steuerpolitik diskutieren, dafür bin ich dankbar“, sagt Michael Eilfort von der Stiftung Marktwirtschaft, einer Denkfabrik, der seit Jahren erfolglos Reformvorschläge vorträgt. Immerhin also: eine Idee. Man lernt in diesen Tagen in Europa, für sehr wenig dankbar zu sein.