
Gareth Jenkins geht gern seinen eigenen Weg. Geografisch gesehen, aber auch politisch. Die Fahrt zum Chef von Europas größtem privatem Werkzeugmaschinenhersteller, FSG Tool & Die, führt von der walisischen Hauptstadt Cardiff aus noch eine weitere halbe Stunde in Richtung Nordwesten. Mitten in einem Industriepark trifft man schließlich einen Mann, der sich auch von der politischen Mitte seiner Landsleute entfernt hat. Denn Jenkins ist EU-Enthusiast.
Um zu verstehen, warum das so ist, muss man mit dem Waliser nur eine Runde durch das Werk drehen. Der 59-Jährige zeigt stolz auf die Exponate im fensterlosen Konferenzraum, dort stehen oder hängen Prototypen von Produkten, die veranschaulichen, für wen das Familienunternehmen seine Press-, Schmiedewerkzeuge und Spritzgussformen produziert: für Autozulieferer und Pharmafirmen, für die Hersteller von Bierdosen, Babynahrung, Thunfischdosen, Fertiggerichten, Joghurt. Die allermeisten Kunden dafür sitzen in der EU, die meisten in Deutschland.
Die schwierige Beziehung der Briten zu Europa
Die Beziehungen zwischen Großbritannien und der Europäischen Union waren nie einfach. Der konservative britische Premierminister David Cameron will bei einer Wiederwahl 2017 ein Referendum über den Verbleib in der EU ansetzen - und vorher das Verhältnis des Königreichs zu Brüssel neu verhandeln. Geprägt von tiefem Misstrauen gegenüber Europa setzte Großbritannien in der Vergangenheit wiederholt Sonderregeln durch - und steht traditionell mit einem Fuß außerhalb der EU.
Da Großbritannien zwar viel in den EU-Haushalt einzahlte, aber kaum von den milliardenschweren Agrarhilfen profitierte, forderte die britische Premierministerin Margaret Thatcher 1979: „I want my money back!“ („Ich will mein Geld zurück!“) Die „Eiserne Lady“ setzte dann 1984 eine Rabatt-Regelung für ihr Land durch, nach der Großbritannien 66 Prozent seines Nettobeitrags an die EU zurückerhält. Der Rabatt besteht bis heute, obwohl er immer wieder den Unmut anderer EU-Länder erregt, da sie nun den britischen Anteil mittragen müssen. Doch abgeschafft werden kann die Regel nur, wenn London zustimmt.
Wer von Deutschland nach Frankreich, Österreich oder in die Niederlande reist, muss dafür seinen Pass nicht vorzeigen. Großbritannien-Urlauber sollten den Pass jedoch dabei haben: Die Briten haben sich nicht dem Schengen-Abkommen angeschlossen, das den EU-Bürgern Reisefreiheit von Italien bis Norwegen und von Portugal bis Polen garantiert.
Seit der EU-Vertrag von Lissabon im Jahr 2009 in Kraft getreten ist, kann Großbritannien wählen, an welchen Gesetzen im Bereich Inneres und Justiz es sich beteiligt. Zudem erwirkte die britische Regierung den Ausstieg aus 130 Gesetzen aus der Zeit vor dem Lissabon-Vertrag. Im Dezember 2014 stieg London dann bei rund 30 Regelungen wieder ein, darunter beim Europäischen Haftbefehl. Diese „Rosinenpickerei“ nervt im Rest der EU viele.
In der Verteidigungspolitik setzt Großbritannien auf die Nato. Als EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker im März für den Aufbau einer europäischen Armee warb, kam das „No“ aus London postwendend. „Verteidigung ist eine nationale, keine EU-Angelegenheit“, sagte ein Regierungssprecher. Obgleich Großbritannien Ende der 1990er Jahre den Widerstand gegen die Gründung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) aufgab, wacht es darüber, dass die Europäer hier nicht zu weit gehen. So hat London verhindert, dass es ein Militärhauptquartier in Brüssel gibt. EU-Einsätze wie etwa in Mali werden deshalb dezentral aus den Mitgliedstaaten geleitet.
Auch in der Euro-Krise ist die an ihrer Pfund-Währung festhaltende britische Insel ein gutes Stück weiter von der Kern-EU weggedriftet. Mit Sorge wurden in London die mühseligen Arbeiten zur Euro-Rettung beobachtet, zudem fürchtete die britische Regierung Folgen für den Finanzstandort London durch strengere Banken-Regulierung oder eine Finanztransaktionssteuer. Für Empörung in der EU sorgte, dass sich Großbritannien dem Fiskalpakt für mehr Haushaltsdisziplin nicht anschloss.
Brexit ist Gefahr und Chance
Vor zweieinhalb Jahren versprach Großbritanniens Premierminister David Cameron seinen Landsleuten, er werde sie spätestens Ende 2017 über die künftige EU-Mitgliedschaft abstimmen lassen. Vorher will er mit den anderen EU-Ländern verhandeln und fordert, Großbritannien müsse das Recht bekommen, sich vom Ziel einer immer engeren Union abzukoppeln, dürfe aber gleichzeitig nicht gegenüber den Mitgliedern der Euro-Zone benachteiligt werden. Auch will er die Sozialleistungen für EU-Migranten in seiner Heimat beschränken und eine Stärkung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit.
Da das Verhältnis der Briten zu Brüssel traditionell schlecht ist, steht seitdem eine ganz konkrete Drohung im Raum: Entweder die EU passt sich den britischen Vorstellungen an, oder das Königreich verlässt die Gemeinschaft. Der Brexit, er ist eine reale Gefahr. Oder eine Chance. Je nachdem, auf welcher Seite man steht.
Gemeinsam nach Asien
Jenkins hat genau nachgerechnet. Ergebnis: „In der EU zu sein hat so viele Vorteile, und so weit ich erkennen kann, würde uns der Abschied keinerlei Vorteile bringen.“ Im Zentrum steht für ihn – wen wundert’s – der Binnenmarkt. Neue Zölle würden den FSG-Umsatz binnen sechs Monaten um 30 Prozent verringern, warnt er. Jenkins ist ein weltoffener Mann. Doch vor allem zählen für ihn ganz handfeste Argumente. So ist FSG Tool schon vor einiger Zeit eine lose Partnerschaft mit dem deutschen Mittelständler Heilbronn Container Presses und einem schwedischen Unternehmen eingegangen; gemeinsam versuchen sie den Vorstoß in außereuropäische Märkte, etwa nach Asien.
„Wir konkurrieren nicht, sondern ergänzen uns, teilen die Kosten für Dolmetscher oder Fahrer und informieren uns gegenseitig.“ Das hätte es ohne die EU nicht gegeben. Beim Rundgang, der Lärm ist manchmal ohrenbetäubend, macht Jenkins klar: Das geplante Referendum hält er für überflüssig. „Es bringt nur Ungewissheit, das ist schlecht fürs Geschäft.“
Die britische Regierung schwankt. Ja, man will das Volk abstimmen lassen. Nein, man will Europa nicht um jeden Preis verlassen. Aber so bleiben, wie es ist, dürfe Europa eben auch nicht. Das ist für Cameron wichtig, nur dann kann er auf ein Ja der skeptischen Briten hoffen. Die anderen EU-Partner halten aber eine Änderung der EU-Verträge innerhalb der nächsten zwei Jahre für aussichtslos, die Briten werden sich also bestenfalls mit ein paar weniger bindenden Zusatzprotokollen begnügen müssen.
Eine aktuelle Umfrage der Zeitung „The Independent“ zeigt eine Zunahme der Brexit-Befürworter: Demnach wollen 52 Prozent den „Brexit“ und nur 48 Prozent in der Gemeinschaft bleiben. Damit habe erstmals bei den monatlichen Umfragen des Blattes eine Mehrheit den Austritt befürwortet.
Möglicherweise handele es sich um eine Reaktion der Befragten auf die Terrorangriffe von Paris sowie auf die Flüchtlingskrise, hieß es. Allerdings sei die Unterstützung für einen Verbleib in der EU bereits in den Vormonaten immer geringer geworden. Für die Umfrage wurden laut Bericht vergangenen Mittwoch und Donnerstag 2000 Briten befragt.
Der chinesische Präsident Xi und US-Präsident Barack Obama warnten die Briten bereits vor einem Austritt.