Der Platz vor der historischen Guildhall Kunstgalerie in der Londoner City ist zum Lunch fest in internationaler Hand. Vietnamesisches Streetfood wird neben türkischen Lahmacun, Burritos aus Mexiko und pakistanischem Kebab verkauft. Vor den kleinen Essensständen reihen sich in langen Schlagen die Banker und Geschäftsleute der Londoner City, einem der größten Finanzplätze der Welt. Vielfalt wird hier gelebt, ein Banker mit nigerianischen Wurzeln erzählt seiner Kollegin aus Sambia von seinem neuesten Start-up.
Kaum vorstellbar, dass das alles bald vorbei sein könnte. Schottet Großbritannien sich ab, dürften vor allem die ausländischen Mitarbeiter der großen Konzerne schnell das Weite suchen. Stimmt Großbritannien tatsächlich für den Brexit, also den Austritt aus der EU, ist das gleichzeitig ein Nein zum internationalen Flair und ein Ja, hin zur nationalen Kleinbürgerlichkeit.
An einem Stand verkauft ein Schotte neben Wurstrollen auch Schottische Eier, die, hartgekocht und mit Wurstbrät umwickelt eine Spezialität des Landes sind. Selbst diese könnte es, sollten sich die Brexit-Befürworter durchsetzen, bald nicht mehr geben – viele Beobachter gehen davon aus, dass die nördlichen Nachbarn bei einem „Leave“ ebenfalls schnell das Weite suchen würden.
„Remain“ dominiert die City
Kein Wunder, dass die City, das wichtige Londoner Geschäftsviertel, fest in der Hand der Brexit-Gegner ist. „Die City ist so international“, sagt Peter Gostev, der gegenüber der Bank of England einen kleinen Tisch mit Wahlkampfmaterial aufgebaut hat. 10.000 Sticker mit der Aufschrift „I’m in“ habe er allein in wenigen Stunden verteilt. Tatsächlich blitzt so ein blauer Sticker am Donnerstag in der City an vielen Revers der Sakkos und Blazer.
Damit dominieren die Brexit-Gegner am Wahltag, an dem auch in London traditionell kein offizieller Wahlkampf mehr gemacht wird, das Straßenbild. Vor zahlreichen zentralen U-Bahn-Stationen haben sie Vertreter ihrer „I’m in“-Kampagne postiert.
Wahlkampf bis zuletzt
Ivan steht vor der Liverpool Street Station. An jedem Finger trägt er einen blauen „In“-Sticker, viele Passanten greifen zu und heften sich das Statement auf ihrem Weg zur Arbeit an die Kleidung. „Ich mag keine Nationalisten“, sagt Ivan, der ursprünglich aus den Niederlanden kommt. An der EU sei zwar längst nicht alles toll. „Alle anderen Lösungen sind aber noch schlechter“, meint er. Die Union in Europa solle nicht kaputt gehen.
In London, meint Ivan, wäre ein Brexit ein riesiger Knall. Sein Mitstreiter Peter schätzt, dass zumindest in der City rund 80 Prozent für „Remain“ stimmen werden. Einer hat das mal anders gesehen. „Erst wollte ich für „Leave“ stimmen, erzählt ein Banker. Er habe Angst gehabt, dass vor allem die kleinen EU-Länder die Briten mehr kosten, als dass sie nutzen würden. Mittlerweile, erzählt er, habe er aber seine Meinung geändert. Nun sehe er vor allem die Vorteile für die Wirtschaft, vor allem was die Zahl der Jobs in Großbritannien angehe. „Ich habe für 'Remain' gestimmt“, sagt er.
Einige Londoner sehen das Referendum aber auch ganz pragmatisch. „Ich verlasse das Land so oder so“, sagt ein Brite auf die Frage, wie er es mit dem Brexit halte. Vielleicht gen USA, vielleicht aber auch woanders hin. Für ihn ist das Referendum keine Lösung für ein Problem, welches schon historisch unter der Regierung Thatcher seinen Lauf genommen habe.
Und die Brexit-Befürworter? Auch die gibt es in London, aber sie sind zumindest an diesem wahlkampffreien Donnerstag deutlich in der Unterzahl. Einer findet sich in einem Wettbüro. Rob Grant hat das nächste Spiel der Europa-Meisterschaft getippt und ein paar Pfund gesetzt. Auf den Brexit zu wetten, das wäre ihm dann doch zu heikel. „Aber ich habe für 'out' gestimmt“, sagt er. Allerdings, das ist ihm wichtig, nicht wegen der zunehmenden Zahl an Immigranten, welche bei so manchem Brexit-Befürworter als Standardargument herhalten muss.
Rob dagegen meint, dass vieles auf der Insel ohne die Vorschriften in der EU besser laufen würde, gerade was Arbeitsplätze angeht. In einigen Stadtvierteln, erzählt er, gebe es schon viele Befürworter wie ihn. Für ganz London gilt das wohl nicht.
Die besten Indikatoren für das Ergebnis sind nicht die offiziellen Meinungsumfragen, sondern die Buchmacher in den Wettbüros. Und deren Quoten sprechen eine eindeutige Sprache. „Ich würde nicht wetten“, sagt einer der Quotenmacher. Die Quote für „in“ werde immer geringer, die für „out“ dafür extrem riskant. Gut für ihn, dass seine Kunden das offenbar anders sehen. „Einer hat rund zehntausend Pfund auf 'out' gesetzt“, erzählt er, nicht ohne Verwunderung in der Stimme. Zuletzt wurde der Brexit laut Buchmachern immer unwahrscheinlicher. „Die Leute wetten gar nicht mehr“, sagt einer. Die meisten würden nur nachfragen.
Firmen ermahnen zur Wahl
Unter anderem liegt das auch daran, dass viele Unternehmen kurz vor der Wahl E-Mails an ihre Mitarbeiter versendet haben und für die Wahl plädiert haben. „Dies ist eine der wohl wichtigsten Wahlen, die wir in unserem Leben haben werden“, schreibt die Chefin einer Londoner Medienagentur in einer E-Mail an ihre Mitarbeiter. Sie wolle allen die Möglichkeit geben, ihre Stimme abzugeben, welche auch immer es ist. Alle Mitarbeiter ihrer Agentur dürfen daher am 23. Juni entweder später zur Arbeit kommen oder früher gehen.
So ernst nehmen viele Londoner das Referendum. „Zwischen acht und zehn Uhr morgens haben wir bereits einen großen Ansturm an Wählern erlebt“, erzählt der Leiter eines Wahllokals im Londoner Stadtteil Whitechapel. Der erste habe sogar bereits um fünf Minuten vor Acht vor der Tür gestanden. Allein in den wenigen Minuten, in denen er erzählt, geben zahlreiche Londoner in den Räumen einer Grundschule ihre Stimme ab.
Großbritanniens Rolle in der Europäischen Union
Nach Deutschland ist Großbritannien die zweitgrößte Wirtschaftsmacht in der EU. Das Königreich steuert ein Sechstel zur gesamten Wirtschaftsleistung aller EU-Staaten von 14,6 Billionen Euro bei. An Finanzdienstleistungen exportiert Großbritannien 20 Milliarden Euro mehr in die EU als es von dort erhält. Auf der Insel befindet sich - geballt im Finanzzentrum London - der viertgrößte Bankensektor der Welt. Die britische Finanzbranche steuerte 2014 fast 250 Milliarden Euro oder rund zwölf Prozent zur britischen Wirtschaftsleistung bei.
Mit rund fünf Milliarden Euro war Großbritannien im gleichen Jahr der drittgrößte Nettozahler in den EU-Haushalt nach Deutschland und Frankreich. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) lagen die Briten mit ihrem Beitrag indes nur auf Platz zehn.
Auf der Bühne der Weltpolitik kann die EU auch dank Großbritanniens mitreden. Denn mit dem Vereinigten Königreich und Frankreich entfallen zwei von fünf Veto-Stimmen im UN-Sicherheitsrat auf die EU. Neben den Franzosen verfügen nur die Briten in der EU über Atomwaffen. Britische Streitkräfte beteiligen sich an EU-Militäreinsätzen, unter anderem an der Operation "Atalanta" am Horn von Afrika, die von Northwood in England gesteuert wird. Als eines von vier EU-Staaten erreicht das Königreich die Nato-Vorgabe, mindestens zwei Prozent der Wirtschaftsleistung für Verteidigung auszugeben.
Maßgeblich für den Einfluss eines Mitgliedslandes in der EU ist sein Stimmanteil im EU-Rat. Entscheidend ist dabei die Bevölkerungszahl. Damit entfallen auf Deutschland und seine rund 81 Millionen Einwohner mit 15,93 Prozent die meisten Stimmrechte. Knapp hinter Frankreich liegt Großbritannien mit 64 Millionen Bürgern und einem Stimmanteil von 12,73 Prozent auf Platz drei. Damit ein EU-Gesetz angenommen werden kann, müssen bei einer Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit 55 Prozent der 28 Mitgliedsländer, die zugleich 65 Prozent der EU-Gesamtbevölkerung stellen, mit "Ja" stimmen.
Von den etwa 55.000 Mitarbeitern der EU-Institutionen haben rund 2000 einen britischen Pass. Im 751 Abgeordnete umfassenden EU-Parlament stammen 73 aus dem Vereinigten Königreich. Mit dem Tory Syed Kamall von den "Europäischen Konservativen und Reformern" sowie dem rechtspopulistischen Ukip-Chef Nigel Farage von der Gruppierung "Europa der Freiheit und direkten Demokratie" führen britische Abgeordnete zwei von acht Fraktionen im Parlament. In der EU-Kommission ist der ranghöchste Brite Jonathan Hill, der für die Regulierung der Finanzmärkte zuständig ist. Insgesamt sind 1126 Briten bei der EU-Kommission beschäftigt, was 3,8 Prozent der Gesamtzahl der Mitarbeiter entspricht. Deutschland stellt 2175 Angestellte und Beamte für die Brüsseler Behörde.
Mit der Aufnahme osteuropäischer Staaten in die EU 2004 hat das Englische Französisch als Gebrauchssprache der EU-Institutionen mehr und mehr verdrängt. Denn in Polen, Tschechien oder im Baltikum ist Englisch als Fremdsprache weitaus stärker verbreitet. Mittlerweile gibt es Sprecher der EU-Kommission, die auf Französisch gestellte Fragen auf Englisch beantworten - was vor Jahren noch ein undenkbarer Affront gewesen wäre. Selbst der aus Frankreich stammende EU-Wirtschaftskommissar Pierre Moscovici wechselt bei Pressekonferenzen regelmäßig ins Englische.
Auch im eher frankophonen Brüssel haben sich die Belgier auf die englischsprachigen Zugezogenen eingestellt - bei Durchsagen in Bussen und Bahnen, in Restaurants oder Geschäften. Unabhängig von der betonten Zurückhaltung der britischen Regierung bei Fragen der EU-Integration ist die Weltsprache Englisch also fester und verbindender Bestandteil der Europäischen Union.
Trotzdem sind viele froh, wenn alles endlich vorbei ist. Nein, er werde das Ergebnis nicht live verfolgen, erzählt der Mitarbeiter eines Sicherheitsdienstes. Morgen müsse ja schließlich wieder gearbeitet werden. Es klingt, als hoffte er auf ein Stück Normalität. Die wird es aber wohl so schnell noch nicht mal im Fall eines „in“ geben. „Die Diskussionen werden doch noch wochenlang weitergehen“, befürchten viele.
Auch wenn viele es vorziehen, zu schlafen: Für die Banken in der Londoner City wird es auf jeden Fall eine lange Nacht. „Alle großen Investmentbanken haben Nachtschichten eingerichtet“, erzählt ein Investmentbanker. Vor allem an den Devisenmärkten könnte es im Fall eines Brexits zu immensen Verwerfungen kommen, die Handelsräume sollen jederzeit besetzt sein. Clever, wer sich vorher noch mit einem nahrhaften Schottischen Ei oder einem Burrito gestärkt hat. Hoffentlich gibt es diese Gelegenheit demnächst auch noch, denn die nächste Nachtschicht in der City kommt bestimmt, Brexit hin oder her.