
Eine große Mehrheit von Managern in Großbritannien und Deutschland spricht sich laut einer Umfrage gegen einen Ausstieg der Briten aus der EU aus. Die Bertelsmann-Stiftung stellte am Montag die Ergebnisse ihrer Studie vor, wonach die Verantwortlichen in den befragten 782 Unternehmen branchenübergreifend vor allem negative Folgen eines sogenannten „Brexits“ sehen. 79 Prozent der Befragten sprechen sich für einen Verbleib des Königreichs in der EU aus. Wobei die Zustimmung mit 83 Prozent in Deutschland höher als bei den Briten (76) ist.
Die Forscher stellten ihre Frage unter der Hypothese, dass das Land die EU als politische Einheit verlässt, aber Mitglied des Binnenmarktes bleibt. Trotzdem befürchteten die Manager erhebliche negative Effekte. 36 Prozent prognostizieren Auswirkungen auf die eigenen Umsätze, 31 Prozent auf Investitionen und 29 Prozent einen Rückgang bei der Zahl der Beschäftigten.
Die schwierige Beziehung der Briten zu Europa
Die Beziehungen zwischen Großbritannien und der Europäischen Union waren nie einfach. Der konservative britische Premierminister David Cameron will bei einer Wiederwahl 2017 ein Referendum über den Verbleib in der EU ansetzen - und vorher das Verhältnis des Königreichs zu Brüssel neu verhandeln. Geprägt von tiefem Misstrauen gegenüber Europa setzte Großbritannien in der Vergangenheit wiederholt Sonderregeln durch - und steht traditionell mit einem Fuß außerhalb der EU.
Da Großbritannien zwar viel in den EU-Haushalt einzahlte, aber kaum von den milliardenschweren Agrarhilfen profitierte, forderte die britische Premierministerin Margaret Thatcher 1979: „I want my money back!“ („Ich will mein Geld zurück!“) Die „Eiserne Lady“ setzte dann 1984 eine Rabatt-Regelung für ihr Land durch, nach der Großbritannien 66 Prozent seines Nettobeitrags an die EU zurückerhält. Der Rabatt besteht bis heute, obwohl er immer wieder den Unmut anderer EU-Länder erregt, da sie nun den britischen Anteil mittragen müssen. Doch abgeschafft werden kann die Regel nur, wenn London zustimmt.
Wer von Deutschland nach Frankreich, Österreich oder in die Niederlande reist, muss dafür seinen Pass nicht vorzeigen. Großbritannien-Urlauber sollten den Pass jedoch dabei haben: Die Briten haben sich nicht dem Schengen-Abkommen angeschlossen, das den EU-Bürgern Reisefreiheit von Italien bis Norwegen und von Portugal bis Polen garantiert.
Seit der EU-Vertrag von Lissabon im Jahr 2009 in Kraft getreten ist, kann Großbritannien wählen, an welchen Gesetzen im Bereich Inneres und Justiz es sich beteiligt. Zudem erwirkte die britische Regierung den Ausstieg aus 130 Gesetzen aus der Zeit vor dem Lissabon-Vertrag. Im Dezember 2014 stieg London dann bei rund 30 Regelungen wieder ein, darunter beim Europäischen Haftbefehl. Diese „Rosinenpickerei“ nervt im Rest der EU viele.
In der Verteidigungspolitik setzt Großbritannien auf die Nato. Als EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker im März für den Aufbau einer europäischen Armee warb, kam das „No“ aus London postwendend. „Verteidigung ist eine nationale, keine EU-Angelegenheit“, sagte ein Regierungssprecher. Obgleich Großbritannien Ende der 1990er Jahre den Widerstand gegen die Gründung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) aufgab, wacht es darüber, dass die Europäer hier nicht zu weit gehen. So hat London verhindert, dass es ein Militärhauptquartier in Brüssel gibt. EU-Einsätze wie etwa in Mali werden deshalb dezentral aus den Mitgliedstaaten geleitet.
Auch in der Euro-Krise ist die an ihrer Pfund-Währung festhaltende britische Insel ein gutes Stück weiter von der Kern-EU weggedriftet. Mit Sorge wurden in London die mühseligen Arbeiten zur Euro-Rettung beobachtet, zudem fürchtete die britische Regierung Folgen für den Finanzstandort London durch strengere Banken-Regulierung oder eine Finanztransaktionssteuer. Für Empörung in der EU sorgte, dass sich Großbritannien dem Fiskalpakt für mehr Haushaltsdisziplin nicht anschloss.
Großbritanniens Premier David Cameron will voraussichtlich im kommenden Sommer das Volk über einen „Brexit“ abstimmen lassen. Die Umfrage, die dem Handelsblatt und der britischen Zeitung "Guardian" vorab vorlag, könnte ein Argument für Cameron und andere Befürworter des Verbleibs in der EU sein. Einer aktuellen britischen Umfrage von ICM zufolge befürworten mit 42 Prozent inzwischen mehr Briten den Ausstieg. Beim EU-Gipfel am Donnerstag wird erwartet, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel und andere Regierungschefs den Briten mit zusätzlichen Sonderrechten die Zustimmung schmackhaft machen werden.
Britische Handelskammer: „Brexit“ schadet deutscher Exportwirtschaft
Ein Austritt Großbritanniens aus der EU hätte auch nach Einschätzung eines Handelsexperten Auswirkungen - vor allem auf die deutsche Exportwirtschaft. „Das trifft die deutsche Automobilindustrie an allererster Stelle, dann die weiße Ware, sehr viele Finanzdienstleistungen, die Bankenwelt“, sagte der Geschäftsführer der Britischen Handelskammer in Deutschland, Andreas Meyer-Schwickerath. Unter weiße Ware versteht man große elektronische Haushaltsgeräte.
Zugleich warnte Meyer-Schwickerath vor wirtschaftspolitischen Folgen für die Europäische Union. „Wenn Großbritannien austritt, dann ist ein Domino-Effekt zu erwarten“, sagte er mit Blick auf die politische Entwicklung in Polen und Ungarn, aber auch in Frankreich und Spanien. „Die Nationalismen nehmen zu, und die Deutschen wären gut beraten zu versuchen, hier die Einigkeit stärker hervorzuheben und mit EU-Reformen möglichen Unabhängigkeitsbestrebungen entgegenzuwirken.“
Mögliche Nachteile für den Finanzplatz London sieht der Experte indes eher nicht. „Möglicherweise gewinnt London sogar, dadurch dass es einen unabhängigeren Status erhält“, sagte er. Auch der britische Binnenmarkt könne durchaus von einem „Brexit“ profitieren. „Es kann durchaus sein, dass nach einer anfänglichen Schwächung das Pfund wieder zu einer starken Fluchtwährung würde und dann zumindest die Importe für die Briten billiger würden.“
Insgesamt würden allerdings auch für die britische Wirtschaft die Nachteile überwiegen: „Vorteile sehe ich allenfalls darin, dass die politische Abstimmung nicht mehr über die EU läuft, sondern Großbritannien alleine handeln kann in vielen Dingen“, sagte Meyer-Schwickerath. Als Beispiele nannte er Sozial- und Migrationspolitik sowie die umstrittene Frage der Arbeitsgenehmigungen. „Die Briten sind in vielen Punkten pragmatischer als die Deutschen oder als die europäische Seite und können dadurch unabhängiger agieren und vor allem schneller agieren.“
Für Flugreisende könne der Abschied von der EU höhere Preise bedeuten, warnte EasyJet-Chefin Carolyn McCall in der „Sunday Times“. Vor der Gründung des Gemeinsamen Europäischen Luftverkehrsraums sei Fliegen eher etwas für Eliten gewesen, dann seien die Ticketpreise gefallen und die Zahl der Flugstrecken habe stark zugenommen. „Wie viel man für seinen Urlaub bezahlt, hängt tatsächlich davon ab, wie viel Einfluss Großbritannien in Europa hat“, schrieb McCall in einem Gastbeitrag in der konservativen Zeitung.
Nicht festlegen wollte sich Handelskammer-Geschäftsführer Meyer-Schwickerath auf die Kosten eines „Brexit“. „Es gibt Schätzungen, dass es zwischen 0,5 und 1,5 Prozent des Bruttosozialproduktes sein kann“, sagte er. Die deutsch-britische Handelsbilanz bei Waren und Dienstleistungen betrug 2014 nach Angaben der Bundesbank 177 Milliarden Euro. Dabei lag der Überschuss eindeutig auf deutscher Seite: Die Bundesrepublik exportierte Waren im Wert von 91,9 Milliarden Euro nach Großbritannien und importierte Güter im Wert von 44,1 Milliarden Euro.