Brexit David Cameron - der Zocker

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Vergiftetes Erbe


Schon im September 2014 setzte er beim schottischen Unabhängigkeitsreferendum alles auf eine Karte und hatte damals großes Glück, dass die Schotten dem Vereinigten Königreich treu blieben. Die hochriskante Strategie des Premiers in Sachen EU-Mitgliedschaft hat eine noch längere Vorgeschichte, die mit der jahrzehntelangen Zerrissenheit seiner Partei in der Europafrage zu tun hat. So muss sein Angebot vom Januar 2013, den Briten eine Volksabstimmung über ihr Verhältnis zur EU in Aussicht zu stellen als verzweifelter Versuch eines in die Enge getriebenen Politikers interpretiert werden, die euroskeptischen Kritiker unter den Tories zu besänftigen und den Aufstieg der Anti-EU-Partei UKIP (United Kingdom Independence Party) zu stoppen.

Doch die Taktik ging nicht auf, denn bei den Konservativen herrscht mittlerweile offener Krieg, und der Preis für Camerons Beschwichtigungstaktik ist hoch: mit dem Brexit droht nicht nur der wirtschaftliche Abschwung sondern auch ein neues Schottlandreferendum und somit ein Auseinanderbrechen des Vereinigten Königreichs. Cameron riskiert ein vergiftetes Erbe: beim Brexit ginge er als der britische Premier in die Geschichtsbücher ein, der sein Land aus der Europäischen Union geführt und ein Auseinanderbrechen des Vereinigten Königreichs zu verantworten hat.

Aber wo steht Cameron, der nun mit aller Kraft für den Verbleib in der EU kämpft, wirklich? Im November 2011 sagte er: „Ich glaube nicht daran, dass Großbritannien die Europäische Union verlassen sollte, aber ich glaube daran, dass es Kompetenzen gibt, die wir von der EU nach Großbritannien zurückholen können, um eine bessere Balance zu erreichen“. Viereinhalb Jahre später, beim EU-Gipfel im Februar diesen Jahres, hat er genau das versucht, doch mit mäßigem Erfolg: Ok, den Briten wurde zugestanden, dass ihnen keine Nachteile dadurch entstehen, dass sie nicht in der Eurozone sind, und ferner, dass der Vertragsanspruch einer „immer engeren Union“ sie künftig nicht zur Integration verpflichtet. Kleinere Erfolge erzielte Cameron auch bei den Sozialleistungen: In den ersten vier Jahren ihres Aufenthalts in Großbritannien muss der Staat Geringverdienern aus anderen EU-Ländern den Lohn aus der Sozialkasse nicht im selben Maße aufstocken wie Einheimischen. Und der britische Staat muss Ausländern, deren Kindern noch in der Heimat leben, lediglich ein Kindergeld in der dort geltenden Höhe überweisen. Doch Camerons eigentliches Ziel, wirksame Zugeständnisse zur Eindämmung der Einwanderung aus anderen EU-Staaten zu erreichen, scheiterte kläglich. Denn das hätte die Freizügigkeit, eine der vier Säulen des Binnenmarktes, gefährdet und war daher nicht machbar. Das hatten die übrigen EU-Regierungschefs, und nicht zuletzt Bundeskanzlerin Angela Merkel, Cameron schon vorab klar signalisiert – pragmatisch wie er ist, schraubte er seine Forderungen zurück.

Londons Sonderwege in Europa
1960Als Gegengewicht zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) wird auf Initiative Londons die Europäische Freihandelszone (EFTA) gegründet, die keine politische Integration anstrebt. Im Bild: Der damalige EFTA-Generalsektretär Kjartan Joahnnsson (rechts) mit seinem Vorgänger Georg Reisch (links) zu den Feierlichkeiten zum 40-jährigen BEstehen der EFTA in Genf. Quelle: REUTERS
Charles de Gaulle Quelle: AP
Premier Harold Wilson Quelle: REUTERS
Margaret Thatcher Quelle: AP
1990Die EG-Länder beschließen im Schengener Abkommen die Aufhebung der Passkontrollen an den Binnengrenzen. Großbritannien macht nicht mit. Quelle: AP
John Major, ehemaliger Premier Großbritanniens Quelle: REUTERS
Premier Tony Blair Quelle: AP

Steve Hilton ehemaliger Berater in der 10 Downing Street, ein langjähriger Weggefährte des Premiers und einer seiner engsten persönlichen Freunde, berichtet jedenfalls, dass Cameron früher ein eingefleischter Euroskeptiker war und im Grunde seines Herzens auch heute noch ein Brexit-Befürworter sein dürfte: „Wenn er nur ein normaler Bürger, ein Hinterbänkler oder Minister wäre, dann würde er für den EU-Austritt werben“, so Hilton kürzlich in einem Interview. Als Regierungschef aber sehe er die Dinge nun wohl aus einer anderen Warte.

Beim letzten britischen Europa-Referendum im Jahr 1975 war David Cameron erst neun Jahre alt. Er wuchs als drittes Kind eines wohlhabenden Börsenmaklers in behüteten Verhältnissen auf, besuchte das Eliteinternat Eton, zu dessen Zöglingen später auch Prinz William und Prinz Harry gehörten. Auf das Oxford-Studium in Philosophy, Politics und Economics (PPE) – eine Fächerwahl, die in England traditionell den Weg zu einer Spitzenkarriere in Wirtschaft oder Politik ebnet – folgte der erste Job in der Grundsatzabteilung der konservativen Partei. Später wurde er Berater des damaligen Finanzministers Norman Lamont und war auch an dessen Seite, als das Pfund aufgrund massiver Attacken von Spekulanten wie George Soros am „Schwarzen Mittwoch“ im September 1992 aus dem Europäischen Währungssystem (EWS) ausscheiden musste. Das Debakel überzeugte ihn davon, dass das Pfund niemals zugunsten einer europäischen Gemeinschaftswährung abgeschafft werden dürfe.

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