




Großbritanniens Regierung hat in den Verhandlungen mit der Europäischen Union über eine EU-Reform einen „wichtigen Durchbruch“ verkündet. Premierminister David Cameron habe sich mit EU-Ratspräsident Donald Tusk auf die Modalitäten einer neuen „Notbremse“ geeinigt, die die Kürzung von Sozialleistungen für zugewanderte EU-Ausländer erlauben soll, teilte das Büro des britischen Regierungschefs am Sonntagabend mit. Tusk hatte bei seiner Reise nach London Vorschläge mitgebracht, wie die EU Großbritannien mit Reformen von einem Austritt aus der Union („Brexit“) abhalten könnte.
Gemäß einer von Tusk unterbreiteten Kompromissvorlage seien die Voraussetzungen für eine Nutzung der „Notbremse“ durch Großbritannien erfüllt, teilte Camerons Büro mit. Damit könne der konservative Premier sein Vorhaben umsetzen, den Anspruch von EU-Bürgern auf bestimmte Sozialleistungen einzuschränken, die weniger als vier Jahre in Großbritannien gearbeitet haben. „Das ist ein wichtiger Durchbruch“, hieß es aus London. Allerdings gebe es in anderen Verhandlungsbereichen noch offene Fragen.
Die schwierige Beziehung der Briten zu Europa
Die Beziehungen zwischen Großbritannien und der Europäischen Union waren nie einfach. Der konservative britische Premierminister David Cameron will bei einer Wiederwahl 2017 ein Referendum über den Verbleib in der EU ansetzen - und vorher das Verhältnis des Königreichs zu Brüssel neu verhandeln. Geprägt von tiefem Misstrauen gegenüber Europa setzte Großbritannien in der Vergangenheit wiederholt Sonderregeln durch - und steht traditionell mit einem Fuß außerhalb der EU.
Da Großbritannien zwar viel in den EU-Haushalt einzahlte, aber kaum von den milliardenschweren Agrarhilfen profitierte, forderte die britische Premierministerin Margaret Thatcher 1979: „I want my money back!“ („Ich will mein Geld zurück!“) Die „Eiserne Lady“ setzte dann 1984 eine Rabatt-Regelung für ihr Land durch, nach der Großbritannien 66 Prozent seines Nettobeitrags an die EU zurückerhält. Der Rabatt besteht bis heute, obwohl er immer wieder den Unmut anderer EU-Länder erregt, da sie nun den britischen Anteil mittragen müssen. Doch abgeschafft werden kann die Regel nur, wenn London zustimmt.
Wer von Deutschland nach Frankreich, Österreich oder in die Niederlande reist, muss dafür seinen Pass nicht vorzeigen. Großbritannien-Urlauber sollten den Pass jedoch dabei haben: Die Briten haben sich nicht dem Schengen-Abkommen angeschlossen, das den EU-Bürgern Reisefreiheit von Italien bis Norwegen und von Portugal bis Polen garantiert.
Seit der EU-Vertrag von Lissabon im Jahr 2009 in Kraft getreten ist, kann Großbritannien wählen, an welchen Gesetzen im Bereich Inneres und Justiz es sich beteiligt. Zudem erwirkte die britische Regierung den Ausstieg aus 130 Gesetzen aus der Zeit vor dem Lissabon-Vertrag. Im Dezember 2014 stieg London dann bei rund 30 Regelungen wieder ein, darunter beim Europäischen Haftbefehl. Diese „Rosinenpickerei“ nervt im Rest der EU viele.
In der Verteidigungspolitik setzt Großbritannien auf die Nato. Als EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker im März für den Aufbau einer europäischen Armee warb, kam das „No“ aus London postwendend. „Verteidigung ist eine nationale, keine EU-Angelegenheit“, sagte ein Regierungssprecher. Obgleich Großbritannien Ende der 1990er Jahre den Widerstand gegen die Gründung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) aufgab, wacht es darüber, dass die Europäer hier nicht zu weit gehen. So hat London verhindert, dass es ein Militärhauptquartier in Brüssel gibt. EU-Einsätze wie etwa in Mali werden deshalb dezentral aus den Mitgliedstaaten geleitet.
Auch in der Euro-Krise ist die an ihrer Pfund-Währung festhaltende britische Insel ein gutes Stück weiter von der Kern-EU weggedriftet. Mit Sorge wurden in London die mühseligen Arbeiten zur Euro-Rettung beobachtet, zudem fürchtete die britische Regierung Folgen für den Finanzstandort London durch strengere Banken-Regulierung oder eine Finanztransaktionssteuer. Für Empörung in der EU sorgte, dass sich Großbritannien dem Fiskalpakt für mehr Haushaltsdisziplin nicht anschloss.
Cameron will seine Landsleute möglicherweise schon dieses Jahr, spätestens aber Ende 2017 über den Verbleib Großbritanniens in der EU abstimmen lassen. Beim EU-Gipfel am 18. und 19. Februar soll ein Kompromiss zu den Reformforderungen gefunden werden. Von britischer Seite hieß es dazu am Sonntagabend, Unterhändler würden am Montag in Brüssel weitere Gespräche führen. Tusk habe signalisiert, dass er den EU-Mitgliedstaaten am Dienstag einen Entwurf vorlegen wolle.
Der polnische EU-Ratspräsident hatte nach dem Treffen mit Cameron am Sonntagabend auf Twitter geschrieben, es gebe „noch keine Vereinbarung“. Er setze auf „intensive Arbeit“ in den nächsten 24 Stunden, um eine Lösung zu finden.
Die „Notbremse“ könnte laut Medienberichten bei starker Zuwanderung gezogen werden, wenn diese soziale Sicherungssysteme oder öffentliche Dienstleistungen erheblich beeinträchtigt. Cameron fordert laut Diplomaten, dass die „Notbremse“ direkt nach der Volksabstimmung aktiviert werden kann. Der Mechanismus sei nicht auf Großbritannien beschränkt, sondern stehe allen EU-Staaten offen, berichteten mehrere Medien. Aktiviert werden könne er nur mit Zustimmung des Ministerrats, in dem die EU-Mitgliedstaaten vertreten sind.
Cameron strebt auch an, den Einfluss nationaler Parlamente in der EU zu stärken und sich von der Pflicht zu verabschieden, eine „immer engere Union“ anzustreben, wie dies im EU-Recht verankert ist. Außerdem fordert London, dass Nicht-Euro-Staaten wie Großbritannien keine Nachteile erfahren.
Tusk hatte angekündigt, er werde Cameron „Lösungen“ in allen Bereichen anbieten, in denen dieser Reformen fordere. Ein Abkommen müsse aber für die Gesamtheit der EU akzeptabel sein, und es werde „keinen Kompromiss bei fundamentalen Freiheiten“ geben.
Dem Vernehmen nach lehnt es der liberalkonservative Pole ab, bei der Arbeitnehmer-Freizügigkeit eine künftige Änderung der EU-Verträge anzubieten. Vertragsänderungen müssen von den EU-Staaten einstimmig gebilligt werden und sind äußerst kompliziert.