Brexit Erfinden sich die Briten als Steueroase neu?

Seite 2/3

Verzweiflung oder Kalkül?

Ist der Discountversuch der Briten nun eine Verzweiflungstat oder ein geschickter Poker, auch in den bevorstehenden Verhandlungen mit der EU? In Berlin und Brüssel neigt man zur ersten Interpretation. „Steuersenkungen in Großbritannien wären eine Panikreaktion. Der Wechselkurs des Pfund und der konkrete Zugang zum Binnenmarkt sind unterm Strich viel relevanter, wenn es um Standortverlagerungen geht“, sagt SPD-Vize Thorsten Schäfer-Gümbel. Noch schärfer, beinahe beleidigt, ist der Ton in Brüssel. „Die Briten merken doch, dass sie absaufen“, kommentiert ein hoher EU-Beamter. Allmählich spüre man in London wohl, wie lange die Periode der Unsicherheit dauern könne, wie teuer der Brexit die Briten zu stehen kommen könne.

Das sagen Ökonomen zum Brexit-Entscheid

Tatsächlich gibt es ökonomisch durchaus handfeste Gründe für den Steuervorstoß von Osborne. Quer über den Kontinent wird seit Jahren schon ein Mangel an Investitionen beklagt. Die EU-Kommission hat mehrfach große Investitionsoffensiven angekündigt – und kleine angestoßen. Dabei geht es, so Osbornes Theorie, viel einfacher: Ist der Steuersatz niedrig, haben die Unternehmen am Jahresende mehr in der Kasse. Markt und der Wettbewerb schleusen das Geld in Maschinen, Anlagen, Arbeitsplätze. Die Wirtschaft boomt (siehe Kommentar Seite 32). Allerdings ist das Vereinigte Königreich bereits heute eine der größten Steueroasen der Welt. Viele Großunternehmen versteuern ihre Gewinne zu niedrigsten Sätzen in der Karibik oder auf dem britischen Inselchen Jersey im Ärmelkanal. Unabhängig davon befürchten Ökonomen neue Schulden und weitere Kürzungen, die die Inlandsnachfrage hemmen. Und schließlich ändert eine niedrige Körperschaftsteuer nichts am neuen Wettbewerbsnachteil: Nach einem EU-Austritt hat Großbritannien ausländischen Konzernen und Banken ausgedient als Brückenkopf für den Handel in die Union.

Großbritannien als Steueroase

Richard Murphy, Steuerexperte an der Londoner City University, hält eine Senkung noch aus einem anderen Grund für kontraproduktiv: „Sätze von weniger als 15 Prozent könnten dazu führen, dass Großbritannien von der restlichen EU als Steueroase eingestuft und auf eine schwarze Liste gesetzt wird.“ Der ökonomische Ertrag dürfte sich in Grenzen halten, wenn Unternehmen fürchten müssen, bei der Umleitung von Gewinnen oder bei einer Verlagerung des Firmensitzes nach Großbritannien von ihren heimischen Steuerbehörden besonders streng unter die Lupe genommen zu werden.

Unklar bleibt zudem, wer für das Steuergeschenk an Großkonzerne zahlen müsste. Voriges Jahr hat die Körperschaftsteuer dem britischen Staat rund 43 Milliarden Pfund eingebracht, jeder Prozentpunkt weniger dürfte rund zwei Milliarden Pfund kosten. Gelingt es der Regierung nicht, dadurch weit mehr Unternehmen anzulocken, müssen die Bürger diese Differenz durch höhere Steuern oder durch den Verzicht auf staatliche Leistungen ausgleichen – vermutlich wenig populär in einer Bevölkerung, die seit Jahren unter einem strengen Sparkurs der Regierung ächzt und ihrem Unmut über schon existierende Steuertricks für Konzerne häufig Luft macht.

Schließlich die Frage aller Fragen: Lässt sich mit niedrigen Steuern wirklich die drohende Firmenabwanderung stoppen? Blickt man in den Terminkalender eines großen Vermögensverwalters, wird man die Frage wohl verneinen müssen. Darin sind, Steuersenkung hin oder her, mehrere Telefontermine mit Firmen eingetragen, die sich aus Großbritannien zurückziehen wollen.

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%