Das ist nicht mehr meine EU: Da blockiert eine winzige Region ein Handels-Abkommen, das zuvor alle anderen EU-Staaten gutgeheißen haben.
Da räumen Bulldozer einen Flüchtlingsslum mitten in Frankreich, der überhaupt nur entstehen konnte, weil sich die EU auf keinen gemeinsamen Umgang mit Migranten einigen konnte.
Da schafft eine europäische Zentralbank die Zinsen faktisch ab und enteignet damit uns Sparer, nur um Ländern innerhalb der Gemeinschaft aus der Patsche zu helfen, die ewig über ihre Verhältnisse gelebt haben.
Da wenden sich mehr als die Hälfte der Wähler im EU-Kernland Großbritannien von der Gemeinschaft ab und in Brüssel reagiert man beleidigt, anstatt selbstkritisch zu fragen, woran es vielleicht liegt, dass die eigenen Attraktivitätswerte auf dem Betonboden des Kellergeschosses aufgeschlagen sind.
Mir tut das wirklich weh, denn ich bin einmal als glühender Verfechter dieser EU groß geworden. Ich habe die Geschichten über Helmut Kohl, der persönlich Grenzzäune niedergerissen haben will, gerne weitererzählt. Ich habe am Geldautomaten gestanden, als der den ersten Euro ausspuckte. Ich glaube an das Friedensprojekt EU, und ich bin sicher, dass eine abgestimmte Wirtschafts- und Währungspolitik in einem möglichst großen Europa, den einzelnen Ländern mehr Wohlstand bringt, als ein nationales Sich-durch-die-Globalisierung-Wurschteln.
Ich habe auch genügend politisches Verständnis, um zu wissen, dass große Würfe in einer Demokratie nicht möglich sind, sondern nur kleine Schritte in die richtige Richtung gegangen werden können. Dass am Ende nie dabei herauskommt, was am Anfang gedacht war und dass der kleinste gemeinsame Nenner der Preis dafür ist, dass niemand völlig zu kurz kommt. Demokratie besteht nicht darin, zu tun was die Mehrheit will, sondern sie besteht vor allem darin, es so zu tun, dass die Minderheit damit leben kann.
Das Bild, das die EU jetzt wieder bei Ceta abgegeben hat, entspricht jedoch all dem nicht. Ein Ameisenhaufen ist deutlich organisierter als jenes Chaoten-Getümmel, das unsere EU da gerade von sich entwirft. Da konstatieren die Verantwortlichen um EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker völlig zu Recht einen Mangel an Demokratie in der Union und beschließen ausnahmsweise das Handelsabkommen mit Kanada nur einstimmig zu verabschieden – oder gar nicht – und prompt geht das schief. Ich kann mir nicht helfen: Aber mir ist diese Union inzwischen peinlich.
Mir ist es peinlich, weil ich nicht glaube, dass bei den Ceta-Verhandlungen außer Wallonien alle geschlafen und sich von Kanada haben über den Tisch ziehen lassen. Vielmehr ist mein Eindruck, dass eine mäßig erfolgreiche Region in Europa Angst hat, gegen eine Konkurrenz aus Kanada, die einen bevorzugten Zugang zur EU bekommen soll, noch älter auszusehen.
Fragen und Antworten zur Ceta-Ablehnung durch die Wallonie
Das ist äußerst unwahrscheinlich. Hinter Ceta stehen alle 28 EU-Regierungen. Sie halten das Abkommen für das fortschrittlichste und beste, das die EU je ausgehandelt hat. Die Gemeinschaft dürfte deswegen weiter versuchen, den Widerstand der Wallonen zu brechen.
Das gilt als schwierig, aber nicht als unmöglich. Der Regierungschef der Wallonen, Paul Magnette, sieht etliche Forderungen seiner Region nach den Verhandlungen der vergangenen Tage bereits als erfüllt an - zum Beispiel, weil Zusatzerklärungen zu Bereichen wie Umwelt- und Verbraucherschutz noch deutlicher formuliert wurden. Knackpunkt ist aber weiterhin das System zur Beilegung von Streitigkeiten zwischen Unternehmen und Staaten. Die Wallonen verlangten zuletzt Änderungen, die nicht in kurzer Zeit umsetzbar sind.
Es gab Warnungen, aber offensichtlich hat sie niemand ernst genug genommen. In Brüssel betrachteten viele Verantwortliche die Streitigkeiten als innerbelgisches Problem und sahen es als Aufgabe der Föderalregierung von Charles Michel an, die notwendige Einigkeit in den Regionen herzustellen.
Letztlich wäre dies wohl am ehesten die Sache von Premierminister Charles Michel. Er hat es weder geschafft, die Wallonie zu überzeugen, noch hat er offensichtlich klar genug davor gewarnt, dass er dem Abkommen gegebenenfalls nicht zustimmen kann.
Beide Seiten zeigen derzeit gegenseitig mit dem Finger auf sich. Die EU-Kommission weist darauf hin, dass sie von Deutschland und etlichen anderen Staaten gezwungen wurde, Ceta als Vertrag einzustufen, dem nicht nur das Europaparlament, sondern auch der Bundestag und andere nationale und regionale Parlamente zustimmen müssen. Dies führt dazu, dass nun zum Beispiel die Wallonen das Abkommen blockieren können. Bundeswirtschaftsminister Gabriel wirft der EU-Kommission hingegen eine Präferenz für das „technokratische Durchpauken von Handelsverträgen“ vor. Er argumentiert, er und andere Mitgliedstaaten hätten damals nur auf die „Fragen und Kritik ihrer Bevölkerung“ reagiert.
Vermutlich haben beide Seiten die Kritik an Freihandelsabkommen wie Ceta lange nicht ernst genug genommen. Gabriel muss sich zudem vorwerfen lassen, dass er zuletzt zweigleisig fuhr. Auf der einen Seite warb er für Ceta, auf der anderen machte er aber Stimmung gegen das mit den USA geplante Handelsabkommen TTIP. Für Ceta-Kritiker war das kaum verständlich.
Ceta-Befürworter befürchten, dass die EU ihre Glaubwürdigkeit als Handelspartner verliert. Ihr Tenor: Schafft die EU nicht mal ein Abkommen mit Kanada, mit wem soll es dann noch klappen? Sie denken dabei auch an die Verhandlungen mit den USA über die große Ceta-Schwester TTIP.
Ich kann auch die Phobie vor Schiedsgerichten nicht verstehen, die immer dann geschürt wird, wenn es um neue Handelsabkommen geht. Im Gegenteil: Ich halte die Idee eines Einigungsprozesses, der nicht gleich vor Gericht ausgetragen wird, für so sinnvoll, dass es möglich sein müsste, sie auch in solche Handelsverträgen festzuschreiben, die wie TTIP oder Ceta in viele Lebensbereiche eingreifen.
Doch mir geht es an diesem Tag, an dem Ceta bis auf weiteres gescheitert zu sein scheint, gar nicht nur um dieses eine Handelsabkommen. Mir geht es um die Idee einer europäischen Union. Sie ist inzwischen derart in Mitleidenschaft gezogen, dass ich Angst um sie habe. Ich stelle fest, dass kaum einer mehr ohne Wenn und Aber für diese Idee durch dick und dünn geht. Sie hat ihre Faszination verloren, was nach 60 Jahren Arbeit in und an der Gemeinschaft völlig normal ist.
Jetzt aber droht sie in den Mühen der Ebene abhanden zu kommen. Und das hat sie wirklich nicht verdient.