In demokratischen Gesellschaften ist der Bürger oft anstrengend. Erhebt er seine Stimme gegen die Interessen der Obrigkeit, wird es für die herrschende Klasse mühsam. Ein Kreuzchen alle paar Jahre – kein Problem! Aber ein Mitbestimmungsrecht? Das muss doch wirklich nicht sein.
So ähnlich könnte ein böswilliger Betrachter das Vorgehen der EU-Kommission in der Causa TTIP und CETA deuten.
Die Handelsabkommen sollen der Europäischen Union mehr Wachstum und Beschäftigung bringen. Das versichert zumindest EU-Handelskommissar Karel de Gucht. Kritiker hingegen glauben, dass das Abkommen dazu dient, zum Vorteil von Großkonzernen Vorgaben zum Umwelt- und Verbraucherschutz auszuhöhlen; die Position von Arbeitnehmern zu schwächen; und die Gestaltungsfähigkeit der Nationalstaaten und damit die Demokratie zu beschränken. Außerdem soll dadurch mehr Privatisierung ermöglicht und jahrzehntealte Schutzmechanismen der Gesellschaft ausgehebelt werden. Längst sind CETA und TTIP zum Sprengstoff im politischen Diskurs geworden.
Europäische Bürgerinitiative
Mit dem Vertrag von Lissabon wurde die Europäische Bürgerinitiative (EBI) eingeführt. Sie soll den Bürgern politische Teilhabe innerhalb der Europäischen Union ermöglichen. Durch die EBI können die Unionsbürger die Europäische Kommission zwingen, sich mit einem Thema zu befassen. Konkrete Beschlüsse können die Bürger nicht fordern.
Die Bürgerinitiative kann nur auf die Bereiche angewendet werden, die der Europäischen Kommission gemäß EU- und AEU-Vertrag zugewiesen sind. Die Europäische Kommission vertritt die Ansicht, Europäische Bürgerinitiativen dürften keine Vertragsreformen fordern.
Die Initiatoren müssen innerhalb eines Jahres insgesamt eine Million gültige Unterstützungsbekundungen in einem Viertel aller EU-Staaten sammeln. Derzeit entspricht das sieben Staaten.
Mitte Juli hatten sich deswegen 230 Organisationen – darunter Brot für die Welt und Attac Deutschland – zum Bündnis „Stop TTIP“ vereinigt, um eine Europäische Bürgerinitiative (EBI) registrieren zu lassen. Ihr Ziel: Sie wollten die Kommission dazu zwingen, die Verhandlungen des deutsch-amerikanischen Handelsabkommens TTIP einzustellen und die Ratifizierung des europäisch-kanadischen Handelsabkommens CETA zu verhindern.
Hätte das Bündnis eine Million Unterschriften aus mindestens sieben verschiedenen EU-Ländern gesammelt, wäre die EU-Kommission zum Handeln gezwungen gewesen. Seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon ist den Unionsbürgern mit der EBI ein zusätzlich politisches Teilhaberecht zugesichert.
„Die juristische Argumentation ist politisch motiviert“
Dass die Unterschriften zusammengekommen wären, ist nicht unwahrscheinlich – in Ländern wie Deutschland, Österreich und Großbritannien regen sich seit Monaten die Gemüter gegen die Handelsabkommen. Darauf ankommen lassen wollte es die Kommission offenbar nicht und unterband die Bürgerinitiative.
Die Verhandlungsmandate zu TTIP und CETA seien keine „nach außen wirkende Rechtsakte“, sondern „interne Vorbereitungsakte“ zwischen EU-Organen - und somit nicht durch Bürgerinitiativen anfechtbar. So begründete die Kommission ihr Vorgehen. „Diese juristische Argumentation ist an den Haaren herbeigezogen und politisch motiviert“, sagt Roland Süß, ein Experte für Handelsabkommen bei Attac Deutschland.
Die Freihandelsabkommen
Ceta ist die Abkürzung für das Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und Kanada. Es steht für „Comprehensive Economic and Trade Agreement“ (Umfassendes Wirtschafts- und Handelsabkommen). Die technischen Verhandlungen begannen 2009, beendet wurden sie 2014. Am 27. Oktober soll Ceta unterzeichnet werden. Ziel des Abkommens ist es, durch den Wegfall von Zöllen und „nichttarifären“ Handelsbeschränkungen wie unterschiedlichen Standards und Normen das Wirtschaftswachstum anzukurbeln.
Nach Angaben des Bundeswirtschaftsministeriums ist die EU für Kanada nach den USA der zweitwichtigste Handelspartner. Ceta gilt auch als Blaupause für das geplante Freihandelsabkommen der EU mit den USA (TTIP), das den weltgrößten Wirtschaftsraum mit rund 800 Millionen Verbrauchern schaffen würde. Kritiker sehen durch beide Abkommen unter anderem demokratische Grundprinzipien ausgehöhlt.
TTIP ist ein sich in der Verhandlung befindendes Freihandels- und Investitionsabkommen zwischen der Europäischen Union und den USA. Seit Juli 2013 verhandeln Vertreter beider Regierungen geheim – auch die nationalen Parlamente der EU erhalten keine detaillierten Informationen.
In dem Abkommen geht es um Marktzugänge durch den Abbau von Zöllen. Zudem sollen globale Regeln entwickelt werden – etwa zur Vereinheitlichung von Berufszugängen innerhalb der Handelszone. Auch Gesundheitsstandards und Umweltstandards sollen angeglichen werden.
Als Blaupause für das Abkommen gilt CETA.
Für Süß ist der Grund klar: „Bei den Abkommen geht es nicht nur um Handelsfragen, es geht um Investitionen, Umweltschutz und Arbeitsplätze. Die Abkommen beschäftigen sich mit allem, was gehandelt wird. Sie greifen in sämtliche Lebensbereiche ein.“ Die Bevölkerung sei für so etwas niemals zu gewinnen.
In Anbetracht des bisherigen Umgangs der Kommission mit dem Bürger in puncto Handelspolitik ist das Niederringen der Europäischen Bürgerinitiative allerdings nur konsequent. Seit 2009 verhandelt die EU-Kommission mit der kanadischen Regierung über CETA, seit 2013 mit der amerikanischen über TTIP. Die Verhandlungen fanden in beiden Fällen hinter verschlossenen Türen statt. Nicht einmal die nationalen Parlamente hatten volle Einsicht in die Verhandlungen. Die Geheimhaltung schürt Misstrauen – und vergrößert die Ängste.