CETA und TTIP Die große Angst vor dem Freihandelsabkommen

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„Die Verhandlungen bewusst an den Bürgern vorbei geführt!“

Aus Scherrers Sicht spiegelt der Investitionsschutz die Kräfteverhältnisse innerhalb der Europäischen Union wieder. „Großunternehmen haben das Forderungstableau der Unterhändler mitbestimmt.“ Deswegen sei es nicht verwunderlich, dass die Position des Bürgers gegenüber den Unternehmen geschwächt würde. „Aus diesem Grund wurden die Verhandlungen auch ganz bewusst an den Bürgern vorbei geführt.“

Oder etwaige Folgen bewusst unterschlagen: „Eine Senkung der Zölle führt langfristig zu Effizienzgewinnen für die Wirtschaft“, sagt Scherrer. Allerdings seien diese Gewinne nicht gleichmäßig verteilt. „Fast alle Handelsabkommen haben dazu geführt, dass in der kurzen Frist weniger wettbewerbsfähige Betriebe aufgeben mussten.“ Dadurch fielen erst einmal Arbeitsplätze weg.

Neu ist dieses Vertuschen und Verheimlichen nicht. Scherrer forschte unter anderem zu der Öffnung der US-Märkte nach dem Zweiten Weltkrieg. „In den Fünfzigerjahren gab es bereits Widerstand gegen die Öffnung“, sagt Scherrer. Die Reaktion der US-Regierung: Sie informierte die Öffentlichkeit über die Vorzüge des freien Handels. „Das war eine Fehlkalkulation. Die Zusatzinformationen führten zu mehr Widerstand.“ Seitdem sei es Konsens, dass solche Verhandlungen im Geheimen geführt werden.

NAFTA führte zu mehr Arbeitslosigkeit und weniger Wachstum

Das könnte gute Gründe haben. Laut einer Studie (.pdf) im Auftrag der Links-Fraktion im Europäischen Parlament werden die positiven Auswirkungen von Freihandelsabkommen überschätzt und die negativen Auswirkungen unterschätzt.

Bevor NAFTA, das Freihandelsabkommen zwischen den USA, Kanada und Mexiko, 1994 in Kraft trat, wurde ähnlich wie heute bei CETA und TTIP argumentiert: Der Freihandel führe zu mehr Wachstum und generiere neue Jobs.

Der Studie zufolge habe NAFTA allerdings zu einer zunehmenden Ungleichheit der Einkommen in Mexiko geführt – der Effekt auf das Einkommenslevel sei unbekannt. Hochqualifizierte Arbeitskräfte würden deutlich mehr verdienen, die Unterqualifizierten weniger.

Die versprochenen Arbeitsplätze seien laut Studie nicht entstanden. Im Gegenteil: Seit 1994 bis heute hätten rund 845.000 Amerikaner ihren Arbeitsplatz verloren. Grund dafür seien die Importe aus Kanada und Mexiko.

Auch das versprochene Wachstum blieb aus. So hätte NAFTA keine Auswirkungen auf das amerikanische und kanadische BIP gehabt, das mexikanische aber um 0,3 Prozent verringert.

„Staaten neigen zu willkürlichen Entscheidungen“

Dafür hat NAFTA die Investorenschutzklausel nach Nordamerika gebracht – was dort teils bizarre Formen annahm. 2012 reichte die amerikanische Tochter des kanadischen Öl-Unternehmen Lone Pine Resources Inc. eine Klage gegen die kanadische Provinz Quebec ein und forderte 250 Millionen Dollar Schadensersatz.

Der Grund: 2011 hatte Quebec das Fracking am St. Lawrence River untersagt – zumindest bis eine Analyse zur Umweltverträglichkeit vorliege. Das Verfahren läuft bis heute.

Der auf deutsch-kanadisches Recht spezialisierte Rechtsanwalt Günter Knorr hält ein solches Vorgehen für das gute Recht von Unternehmen: „Staaten neigen zu willkürlichen Entscheidungen“, sagt er. Deswegen bedürfe es der Investorenschutzklausel. „Wenn staatliche Aktionen dazu führen, dass Unternehmen enteignet werden, müssen diese entschädigt werden. Dabei ist es egal, ob die Entscheidung darüber demokratisch oder undemokratisch zustande kam. Verträge müssen eingehalten werden und sind nicht per demokratischem Beschluss aushebelbar.“

Das Bündnis „Stop TTIP“ sieht in solchen Fällen den Beweis dafür, dass Unternehmen mittels Investorenschutzklauseln die demokratische Entscheidungsfähigkeit eines Staats einschränken.

Deswegen wollen sie vor den Europäischen Gerichtshof ziehen, um ihre Bürgerinitiative doch noch zu legalisieren. Unabhängig von einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs wollen sie die Bürger bald selbst befragen – um zu beweisen: Die Unionsbürger wollen weder CETA noch TTIP.

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