Clemens Fuest "Auf Dauer ist freie Migration nicht mit dem Sozialstaat vereinbar"

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"Die Stabilisierung Osteuropas durch die EU war eine großartige Leistung"

Jeder macht, was er will?

Wir erleben immer wieder, dass die Regierungen der Mitgliedstaaten – etwa in der Fiskal- und Flüchtlingspolitik – in Brüssel Dinge beschließen, die sie zu Hause nicht vertreten und politisch umsetzen. Diese Diskrepanz ist für den Erfolg der EU eine größere Hürde als die Brüsseler Bürokratie oder das viel kritisierte Führungspersonal in der Kommission.

Welches Thema muss auf der politischen Agenda der EU jetzt ganz oben stehen?

Die Sanierung des Bankensektors. Sie ist die entscheidende Voraussetzung für eine nachhaltige wirtschaftliche Erholung in Europa. Wichtig ist auch eine Entrümpelung des EU-Haushalts. Da werden vor allem in der Agrar- und Regionalpolitik Milliarden für unsinnige Dinge ausgegeben, die mit Europa nichts zu tun haben. Die EU sollte ihr Geld stärker auf Projekte konzentrieren, bei denen die Tätigkeit der EU einen Mehrwert erbringt, zum Beispiel bei grenzüberschreitenden Vorhaben und in der Außen- und Sicherheitspolitik.

Kommissionspräsident Juncker hat eine weitere Idee: Alle EU-Länder, die den Euro noch nicht haben, sollen ganz schnell der Währungsunion beitreten.

Dieser Vorschlag als Reaktion auf den Brexit ist vollkommen weltfremd. Derartige Vorstöße führen eher zu einer weiteren Erosion der Autorität und Akzeptanz der EU.

Welche Branchen besonders betroffen sind
AutoindustrieDie Queen fährt Land Rover – unter anderem. Autos von Bentley und Rolls-Royce stehen auch in der königlichen Garage. Die britischen Autobauer werden es künftig wohl etwas schwerer haben, ihre Autos nach Europa und den Rest der Welt zu exportieren – je nach dem, was die Verhandlungen über eine künftige Zusammenarbeit ergeben. Auch deutsche Autobauer sind betroffen: Jedes fünfte in Deutschland produzierte Auto geht nach Angaben des Branchenverbandes VDA ins Vereinigte Königreich. Autos deutscher Konzernmarken haben danach auf der Insel einen Marktanteil von gut 50 Prozent. BMW verkaufte in Großbritannien im vergangenen Jahr 236.000 Autos – das waren mehr als 10 Prozent des weltweiten Absatzes. Bei Audi waren es 9, bei Mercedes 8, beim VW-Konzern insgesamt 6 Prozent. Für Stefan Bratzel wird der Brexit merkliche negative Auswirkungen auf die Automobilindustrie haben, die im Einzelnen noch gar nicht abschließend bewertet werden können. „Der Brexit wird so insgesamt zu einem schleichenden Exit der Automobilindustrie von der Insel führen“, sagt der Auto-Professor. „Wirkliche Gewinner gibt es keine.“ Quelle: REUTERS
FinanzbrancheBanken brauchen für Dienstleistungen innerhalb der EU rechtlich selbstständige Tochterbanken mit Sitz in einem EU-Staat. Derzeit können sie grenzüberschreitend frei agieren. Durch den Brexit werden Handelsbarrieren befürchtet. Quelle: REUTERS
FinTechsDie Nähe zum Finanzplatz London und die branchenfreundliche Gesetzgebung machten Großbritannien in den vergangenen Jahren zu einem bevorzugten Standort für Anbieter internetbasierender Bezahl- und Transaktionsdienste, im Branchenjargon „FinTech“ genannt. Das dürfte sich nun ändern. Der Brexit-Entscheid werde bei den rund 500 im Königreich ansässigen FinTechs „unvermeidlich“ zu einer Abwanderung von der Insel führen, erwartet Simon Black. Grund dafür sei, so der Chef des Zahlungsdienstleisters PPRO, da ihr „Status als von der EU und EWR anerkannte Finanzinstitutionen nun gefährdet ist“. Simon erwartet von sofort an eine Verlagerung des Geschäfts und die Schaffung neuer Arbeitsplätze außerhalb von Großbritannien. „FinTech-Gewinner des Brexits werden meines Erachtens Amsterdam, Dublin und Luxemburg sein.“ Als Folge entgingen Großbritannien, kalkuliert Black, „in den nächsten zehn Jahren rund 5 Milliarden Britische Pfund an Steuereinnahmen verloren“. Quelle: Reuters
WissenschaftAuch in der Forschungswelt herrscht beidseits des Kanals große Sorge über die Möglichkeiten zukünftiger Zusammenarbeit. Die EU verliere mit Großbritannien einen wertvollen Partner, ausgerechnet in einer Zeit, in der grenzüberschreitende wissenschaftliche Zusammenarbeit mehr denn je gebraucht werde, beklagt etwa Rolf Heuer, Präsident der Deutschen Physikalischen Gesellschaft. „Wissenschaft muss helfen, Grenzen zu überwinden.“ Venki Ramakrishnan, der Präsident der Royal Society, fordert, den freien Austausch von Ideen und Menschen auch nach einem Austritt unbedingt weiter zu ermöglichen. Andernfalls drohe der Wissenschaftswelt „ernsthafter Schaden“. Wie das aussehen kann, zeigt der Blick in die Schweiz, die zuletzt, nach einer Volksentscheidung zur drastischen Begrenzung von Zuwanderung, den Zugang zu den wichtigsten EU-Forschungsförderprogramme verloren hat. Quelle: dpa
DigitalwirtschaftDie Abkehr der Briten von der EU dürfte auch die Chancen der europäischen Internetunternehmen im weltweiten Wettbewerb verschlechtern. „Durch das Ausscheiden des wichtigen Mitgliedslands Großbritannien aus der EU werde der Versuch der EU-Kommission deutlich erschwert, einen großen einheitlichen digitalen Binnenmarkt zu schaffen, um den Unternehmen einen Wettbewerb auf Augenhöhe mit Ländern wie den USA oder China zu ermöglichen“, kommentiert Bernhard Rohleder, Hauptgeschäftsführer beim IT-Verband Bitkom, den Volksentscheid. Daneben werde auch der Handel zwischen den einzelnen Ländern direkt betroffen: 2015 exportierte Deutschland ITK-Geräte und Unterhaltungselektronik im Wert von 2,9 Milliarden Euro nach Großbritannien geliefert; acht Prozent der gesamten ITK-Ausfuhren aus Deutschland. „Damit ist das Land knapp hinter Frankreich das zweitwichtigste Ausfuhrland für die deutschen Unternehmen.“ Quelle: REUTERS
ChemieindustrieDie Unternehmen befürchten einen Rückgang grenzüberschreitender Investitionen und weniger Handel. Im vergangenen Jahr exportierte die Branche nach Angaben ihres Verbandes VCI Produkte im Wert von 12,9 Milliarden Euro nach Großbritannien, vor allem Spezialchemikalien und Pharmazeutika. Das entspricht 7,3 Prozent ihrer Exporte. Von der Insel bezogen die deutschen Firmen Waren für 5,6 Milliarden Euro, vor allem pharmazeutische Vorprodukte und Petrochemikalien. Quelle: REUTERS
ElektroindustrieNach einer Umfrage des Ifo-Instituts sehen sich besonders viele Firmen betroffen (52 Prozent). Das Vereinigte Königreich ist der viertwichtigste Abnehmer für Elektroprodukte „Made in Germany“ weltweit und der drittgrößte Investitionsstandort für die Unternehmen im Ausland. Dem Branchenverband ZVEI zufolge lieferten deutsche Hersteller im vergangenen Jahr Elektroprodukte im Wert von 9,9 Milliarden Euro nach Großbritannien. Dies entspreche einem Anteil von 5,7 Prozent an den deutschen Elektroausfuhren. Quelle: dpa

Hat der Brexit langfristige Folgen auf den Euro?

Wenn es nicht gelingt, den Brexit einigermaßen kooperativ zu gestalten, und großer wirtschaftlicher Schaden entsteht, wird das auch die Entwicklung der Euro-Zone beeinträchtigen.

Für viele Experten ist die EU auch wegen ihrer Größe handlungsunfähig. Sollte es einen Aufnahmestopp geben?

Nein. Balkanstaaten wie Serbien sollten aufgenommen werden, wenn sie die Bedingungen erfüllen. Sonst bekommen wir dort vor unserer Haustür irgendwann Zustände wie in der Ukraine. Die politische und wirtschaftliche Stabilisierung Osteuropas durch die EU war eine großartige Leistung! Es ist gefährlich, dass dies in der öffentlichen Debatte kaum noch durchdringt. Politiker sollten auf diese Erfolge hinweisen, statt sich auf Kosten der EU zu profilieren.

Eine persönliche Frage zum Schluss: Welche Ökonomen schätzen Sie am meisten?

Zum einen Richard Musgrave, der grundlegende Beiträge zur Rolle des Staates in der Marktwirtschaft geleistet hat. Und zum zweiten James Buchanan, der für die liberale, eher staatskritische Schule in der Finanzwissenschaft steht und in gewisser Weise ein Gegenspieler von Musgrave ist. Beide waren entscheidend für die Entwicklung des Faches – und für mein eigenes Denken als Ökonom.

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