Clemens Fuest "Auf Dauer ist freie Migration nicht mit dem Sozialstaat vereinbar"

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"Investitionen helfen nur weiter, wenn sie effizient sind"

Die EU will Großbritannien die Vorzüge des Binnenmarkts künftig nur gewähren, wenn das Land die Migrationsfreiheit der EU-Bürger akzeptiert. Ist dieses Junktim sinnvoll?

An den Grundprinzipien des Binnenmarktes für Güter und Dienstleistungen darf nicht gerüttelt werden. Aber die EU sollte darüber nachdenken, ob ihr Regelwerk zur Wanderungsfreiheit der Weisheit letzter Schluss ist. Auf Dauer ist freie Migration nicht mit einem ausgebauten Sozialstaat vereinbar. Wanderungsfreiheit sollte nicht die freie Einwanderung in die Sozialsysteme bedeuten: Wer einen Job in einem anderen EU-Staat findet, sollte dort problemlos hinziehen können. Wer nicht selbst für sich sorgen kann, eben nicht. Wenn wir eine Zuwanderung in die Sozialsysteme stärker begrenzen als bisher, dürfte es den Briten leichter fallen, Migrationsfreiheit als Teil des Binnenmarkts zu akzeptieren.

Gegen die Akzeptanzprobleme der EU empfiehlt Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) neue Investitionsprogramme. Eine gute Idee?

Das Wort Investition klingt gut, und es ist richtig, dass es im Bereich der grenzüberschreitenden öffentlichen Infrastruktur in Europa sinnvolle Projekte gibt. Aber die Frage ist: Wer investiert in was – und wie wird das finanziert? Wenn Politiker von Investitionen reden, meinen sie oft, dass sie neue Schulden machen wollen. Investitionen helfen nur weiter, wenn sie effizient sind. Für private Investitionen sind dazu angemessene Rahmenbedingungen erforderlich. In vielen Sektoren fehlen die, etwa im Energiesektor. Sigmar Gabriel hat hier einiges verbessert. Aber es bleibt viel zu tun.

Das sagen Ökonomen zum Brexit-Entscheid

Aus Südeuropa und Frankreich kommt die Forderung, die Auflagen des Stabilitätspakts zu lockern. Lässt sich so die Wirtschaft ankurbeln?

Der Stabilitäts- und Wachstumspakt ist schon so sehr aufgeweicht, dass man ihn kaum noch lockern kann. Es beachtet ihn ohnehin kaum jemand. Davon abgesehen sind schuldenfinanzierte Programme der falsche Weg. Schulden sind schon jetzt das größte wirtschaftliche Stabilitätsrisiko in Europa. Die Politik sollte sich darauf konzentrieren, die Sanierung der Banken in der Euro-Zone voranzutreiben. Und sie sollte die fiskalische Konsolidierung wachstumsfreundlicher gestalten, also mehr auf Kürzungen konsumtiver statt investiver Ausgaben setzen und weniger Steuern erhöhen.

Brauchen wir weniger oder mehr Integration in Europa?

Weder noch. Die EU kann auf der Basis ihrer Verträge und Institutionen bei vielen aktuellen Herausforderungen wie etwa der Flüchtlingskrise einiges beitragen. Das erfordert allerdings die Bereitschaft der Mitgliedstaaten, ihre Aufgaben zu erfüllen. Die Mitgliedstaaten dürfen sich nicht länger vor Reformen drücken und sollten aufhören, wirtschaftliche und soziale Probleme der europäischen Integration und der Brüsseler Politik anzulasten. An vielen Missständen sind nicht anonyme Eurokraten schuld, sondern nationale Regierungen. In vielen Fällen sprechen wir vom Versagen der EU – tatsächlich versagen aber die Mitgliedstaaten.

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