Corona-Impfstoff Warum Großbritannien AstraZeneca nur noch für Über-30-Jährige empfiehlt

Eine junge Frau wird in Bukarest mit dem AstraZeneca-Vakzin geimpft. Die britischen Behörden empfehlen seit Mittwoch, den Covid-19-Impfstoff wenn möglich nur an Über-30-Jährige zu geben. Quelle: AP

In Großbritannien soll AstraZenecas Impfstoff möglichst nicht mehr an Menschen verimpft werden, die jünger als 30 sind. Um das zu verstehen, muss man wissen, wie Infektionsrisiko und das Risiko von Impfschäden abgewägt werden.

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Wochenlang haben die Behörden in Großbritannien daran festgehalten, dass der Impfstoff von Oxford/AstraZeneca weiter uneingeschränkt an Menschen aus allen Altersgruppen verabreicht werden sollte. Das änderte sich am Mittwoch: Das Impfstoff-Beratungsgremium der Regierung (JCVI) empfiehlt fortan, Unter-30-Jährigen einen alternativen Impfstoff zu verabreichen. Das allerdings nur, falls alternative Impfstoffe verfügbar und die betreffenden Personen nicht einem erhöhten Risiko ausgesetzt sind, an Covid-19 zu erkranken.

Damit folgt Großbritannien erstmals teilweise den behördlichen Empfehlungen in Ländern wie Frankreich und Deutschland, wo der Einsatz des AstraZeneca-Impfstoffs wegen eines möglicher Weise erhöhten Risikos von seltenen Thrombosen auf ältere Personen beschränkt worden ist.

Über Wochen haben sich die britischen Behörden auch mit Angaben dazu zurückgehalten, ob und wie häufig es in Großbritannien nach der Gabe des Astrazeneca-Impfstoffs zu Thrombosen gekommen ist. Die Chefin der britischen Medikamentenzulassung MHRA, June Raine, legte bei einer Pressekonferenz am Mittwoch offen, dass es bis Ende März in Großbritannien 79 Vorfälle gegeben hat, bei denen Geimpfte an seltenen Formen von Thrombosen erkrankt sind.

Von den Betroffenen habe es sich um 51 Frauen und 28 Männer im Alter zwischen 18 und 79 gehandelt. 19 von ihnen seien verstorben. 14 von ihnen hätten die sehr seltenen Sinusvenenthrombosen erlitten, die bereits in anderen Ländern nach der Gabe des AstraZeneca-Impfstoffs beobachtet worden sind. Insgesamt hätten pro einer Million Personen, die den AstraZeneca-Impfstoff erhalten haben, vier Geimpfte eine solche Thrombose erlitten. Bis Ende März sei dieser Impfstoff rund 20 Millionen mal verabreicht worden.

Der stellvertretende Gesundheitschef des Landes, Jonathan Van-Tam, der bei der Pressekonferenz ebenfalls anwesend war, legte Daten vor, die zeigen sollten, worauf sich die neue Empfehlung stützte. Demnach sinkt das Risiko von schweren Impfschäden mit dem zunehmenden Alter der Geimpften, von 1,1 Personen pro 100.000 bei den 20- bis 29-Jährigen auf 0,2 Personen pro 100.000 bei den 60- bis 69-Jährigen.



Bei einem allgemein geringen Risiko, sich mit dem Coronavirus zu infizieren – wie es derzeit in Großbritannien für den Großteil der Bevölkerung der Fall sei –, steige die Zahl der verhinderten schweren Covid-19-Erkrankungen nach einer Impfung mit zunehmendem Alter hingegen rapide an: von 0,8 Personen pro 100.000 bei den 20- bis 29-Jährigen auf 14,1 Personen pro 100.000 bei den 60- bis 69-Jährigen.

Anders gesagt: Den aktuellen Erkenntnissen zufolge ist nur bei den 20- bis 29-Jährigen, die einem geringen Infektionsrisiko ausgesetzt sind, das Risiko einer schweren Covid-19-Erkrankung geringer als das Risiko, nach einer Impfung mit dem AstraZeneca-Impfstoff schwere Nebenwirkungen zu erleiden. Bei Personen über 30 mit geringem Infektionsrisiko überwiegt jedoch der Nutzen einer Impfung mit dem AstraZeneca-Impfstoff bereits deutlich, bei den Über-60-Jährigen sogar um ein Vielfaches.

Bei einem hohen Infektionsrisiko überwiegt der Nutzen einer Impfung mit dem AstraZeneca-Impfstoff in sämtlichen Altersgruppen um ein Vielfaches – bei den Über-60-Jährigen sogar um mehr als das 600-fache.

Gesundheitschef Van-Tam räumte ein, dass es sich bei der neuen Empfehlung um eine „Kurskorrektur“ handelt, die allerdings angesichts der Ausmaßes der ansonsten „überwältigend erfolgreichen“ Impfkampagne in Großbritannien nicht ungewöhnlich sei.

MHRA-Chefin Raine erklärte, ihre Behörde untersuche die möglichen Nebenwirkungen weiter. Ein eindeutiger Zusammenhang zu den Impfungen sei weiterhin nicht belegt. Das Risiko sei in jedem Fall „extrem gering“. Schwangere sollten mit ihren Ärzten über das mögliche Risiko einer Impfung sprechen. Personen, die in der Vergangenheit an Gerinnungsstörungen gelitten haben, sollten den AstraZeneca-Impfstoff nicht erhalten.

Ebenfalls am Mittwoch erklärte die Europäische Arzneimittelbehörde EMA, dass fortan seltene Formen von Thrombosen als mögliche Nebenwirkung des AstraZeneca-Impfstoffs aufgeführt werden sollten. Die Behörde empfahl aber keine Einschränkungen bei dessen Vergabe. In Deutschland wird seit Kurzem die Vergabe des AstraZeneca-Impfstoffs nur noch an Über-60-Jährige empfohlen. In einigen anderen europäischen Ländern gelten ähnliche Einschränkungen.

Großbritanniens Premier Boris Johnson sagte, es „ziemlich eindeutig“, dass die schnelle Vergabe der Impfstoffe in Großbritannien zu einem Rückgang bei den Fallzahlen beigetragen habe. Und tatsächlich gehen in Großbritannien – anders als in vielen anderen europäischen Ländern – die Neuerkrankungen, Einlieferungen in Krankenhäuser und Todesfälle im Zusammenhang mit dem Coronavirus seit Wochen kontinuierlich zurück. Bis zum Mittwoch wurden in Großbritannien bereits mehr als 31,7 Millionen Menschen geimpft – und damit beinahe die Hälfte aller Einwohner der Landes. Die Zahl der Personen, die bereits beide Dosen erhalten haben, übersteigt bereits 5,6 Millionen. Die Impfbereitschaft war bislang ausgesprochen hoch. Es ist sehr naheliegend, dass dieser Rückgang auf die weit verbreiteten Impfungen zurückgeht.

Dabei markiert die Empfehlung der britischen Behörden, Unter-30-Jährigen einen anderen Impfstoff zu verabreichen, dennoch einen Kurswechsel. Denn bislang hat London daran festgehalten, den AstraZeneca-Impfstoff weiter zu verabreichen, auch wenn es anderswo Bedenken und Einschränkungen gab. Mit den nun geänderten Empfehlungen rückt Großbritannien zumindest ein Stück weit näher an die Gesundheitsbehörden in Ländern wie Deutschland und Frankreich.

Noch im März hat die Regierung in London den AstraZeneca-Impfstoff vehement verteidigt. Regierungsminister bezeichneten den Impfstoff als sicher und riefen die Menschen in Großbritannien dazu auf, sich weiter damit impfen zu lassen.

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Das wirkte bisweilen nicht von ungefähr recht trotzig. Denn der Streit um den AstraZeneca-Impfstoff, der seit Monaten immer wieder zwischen London, der EU und einzelnen europäischen Staaten aufkocht, wurde vor allem in konservativen Kreisen gerne als europäischer Versuch gedeutet, den „britischen“ Impfstoff schlecht zu machen. „Die Europäische Union würde lieber ihre Menschen sterben sehen, als dass das Vereinigte Königreich Erfolg hat“, wetterte etwa kürzlich ein britischer Journalist auf Twitter. Auch die überwiegend rechtslastigen Printmedien des Landes verteidigten den Impfstoff lange beinahe reflexartig gegen die europäische Kritik. Doch auch das begann vor einigen Wochen, sich zu ändern.

Mehr zum Thema: Der Wirrwarr rund um den Impfstoff von AstraZeneca dauert an: Die EMA empfiehlt uneingeschränkt die Nutzung. In Großbritannien soll das Mittel nun nur noch über 30-Jährigen verabreicht werden.

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