Corona-Impfung in Großbritannien Warum es in Großbritannien besser klappt als in der EU

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Der erste Erfolg in Zusammenhang mit Corona

Der Gesundheitsdienst NHS war Experten zufolge ebenfalls ein Schlüssel zum Erfolg des Impfprogramms. Durch die zentralisierte Beschaffungsstruktur und das ausgefeilte, landesweite Vertriebsnetz war es dem Gesundheitsdienst möglich, im großen Stil medizinische Materialien wie Nadeln zu besorgen und bis in den hintersten Winkel des Landes zu schaffen.

Die in Großbritannien üblichen Gemeinschaftspraxen mit ihrem hohen Patientenaufkommen und ihren zentralen Datenbanken ermöglichten es, rasch landesweit an Mitglieder von Gruppen heranzutreten, denen Impfstoffe angeboten werden. Lokalen Gesundheitsbehörden bereiteten in den vergangenen Monaten unter anderem Sportanlagen, Gemeindezentren und religiöse Stätten auf ihren Einsatz als Impfzentren vor. Als die Impfstoffe eintrafen, standen so schon die ersten Patienten Schlange.

Dass man in der Downing Street den erfolgreich angelaufenen Start der Impfkampagne derzeit nicht allzu sichtbar feiert, dürfte nicht nur dem Streit mit der EU geschuldet sein. Denn es ist auch in vielerlei Hinsicht der erste Erfolg, den Boris Johnsons Regierung im Zusammenhang mit Corona überhaupt vorweisen kann. In so ziemlich jeder anderen Hinsicht hat Großbritannien bislang mäßig bis miserabel abgeschnitten.

Johnson hat jedes Mal, wenn die Zahl der Neuinfektionen in die Höhe schoss, aus Expertensicht viel zu lange gezögert, bis er Einschränkungen erlassen oder verschärft hat. Im März plante die Regierung zunächst offenbar sogar, dem Virus mehr oder weniger freien Lauf zu lassen, um so eine Herdenimmunität herzustellen. Erst, als Forscher am Imperial College in London ausrechneten, dass dieses Vorgehen eine halbe Million Tote zur Folge haben könnte, wechselte die Regierung ihren Kurs. Vertreter der Regierung bestreiten mittlerweile, dies je geplant zu haben.

Der verspätete Lockdown führte dazu, dass die Pandemie das Land und dessen Wirtschaft stärker traf als in jeder anderen vergleichbaren Industrienation. Als die Regierung über den Sommer versuchte, ein Kontaktverfolgungs-System aufzubauen, beauftragte sie damit nicht den Gesundheitsapparat, sondern lagerte die Aufgabe an privatwirtschaftliche Akteure aus. Trotz Ausgaben im zweistelligen Milliardenbereich versagte dieses System weitgehend. Die Regierung vergab zudem im Eilverfahren Hunderte von Aufträgen an Firmen, die keinerlei Expertise vorweisen konnten. Oft gingen millionenschwere Aufträge an Tory-Parteifreunde, Großspender oder sogar an Nachbarn führender Tory-Politker. Ein Großteil der Briten glaubt daher, dass Korruption im Spiel war.



Johnsons Regierung änderte ihre Anweisungen an die Bevölkerung seit dem Beginn der Pandemie über 60 Mal, was für zunehmende Unklarheit und Frustration sorgte. Als bekannt wurde, dass Dominic Cummings, der führende Berater der Regierung, bereits im März die Corona-Auflagen verletzt hatte, stellte sich Johnson schützend vor ihn. Das trug dazu bei, dass die Bereitschaft der Bevölkerung, Einschränkungen hinzunehmen, immer mehr abnahm.

Infolgedessen sind in Großbritannien im Zusammenhang mit Corona bislang mehr als 100.000 Menschen ums Leben gekommen. Im Januar hatte das Land mit über 1800 täglichen Todesfällen zeitweise die höchste Todesrate der Welt. Die Ansteckungsrate ist in vielen Landesteilen so hoch, dass sich eine neue, noch ansteckendere Variante des Coronavirus ausbreiten konnte. Die bislang weitgehend verpatzte Antwort der Regierung in London hat sogar die Unabhängigkeitsbestrebungen in Schottland beflügelt. Dort liegen seit einem halben Jahr die Befürworter eine Loslösung vom Vereinigten Königreich in Umfragen deutlich vorne. Beobachter sehen einen klaren Zusammenhang zu Londons Antwort auf die Corona-Pandemie.

Und es gibt sogar einen Grund, warum der vorläufige britische Erfolg der Impfkampagne nach hinten losgehen könnte: Die erbitterten Lockdown-Gegner in Johnsons Partei dürften ihn nach einigen Millionen weiteren Impfungen dazu drängen, die Beschränkungen zu früh zu lockern. Ähnlich wie bei den Republikanern in den USA, gibt es auch bei den britischen Tories einen libertären Flügel, der allen Todeszahlen und wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Trotz sämtliche Einschränkungen ablehnt und das Land und dessen Wirtschaft am liebsten sofort wieder komplett öffnen würde.

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Noch hält Johnson dagegen. Auf die Frage, ob die Lockdown-Maßnahme im Frühjahr oder Sommer enden würden, antwortete Johnson kürzlich, es sei noch „zu früh, das zu sagen“.

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