Corona und Brexit Die Boris-Johnson-Masche wird endgültig zum Risiko

Durch Corona und Brexit stürzt Boris Johnson Großbritannien in Sorge. Quelle: dpa

Boris Johnson steht im Ruf, schwierige Entscheidungen hinauszuzögern. In der entscheidenden Phase der Brexit-Verhandlungen könnte ihm das zum Verhängnis werden. Und dann herrscht im Königreich auch noch Corona-Chaos.

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Vom Klassen-Primus zum Sorgenkind: Gerade hatte sich London wegen der raschen Zulassung des Corona-Impfstoffs von Biontech und Pfizer als globaler Vorreiter gefeiert. Nun ist das Land durch die neue Coronavirus-Variante auf negative Art wieder in den Fokus der Pandemie-Berichterstattung gerückt.

Ausgerechnet wenige Tage vor Weihnachten und nur eine gute Woche vor dem Ende der Brexit-Übergangsphase stürzte das Land nach der Nachricht über eine neue Virus-Variante ins Chaos. Viele Länder verhängten Landeverbote für britische Flugzeuge, und Frankreich sperrte die wichtige Handelsroute am Ärmelkanal. Am Dienstag stauten sich die Lkws kilometerweit an den Zufahrtsstraßen zum Fährterminal in Dover und dem nahen Eurotunnel kilometerlang. Am Abend twitterten beide Seiten, der Verkehr solle von diesem Mittwoch an wieder fließen - ein negativer Corona-Test vorausgesetzt. Der Verkehr rollte zwar am Mittwoch langsam wieder an.

Dennoch sorgt sich der britische Einzelhandel um den Nachschub von frischem Obst und Gemüse für die Tage nach Weihnachten, und Brummifahrer sind noch immer nicht die Befürchtungen los, die Feiertage in ihrem Fahrerhaus verbringen zu müssen. „Wir stecken hier fest und wissen nicht, wie lange die Situation andauern wird. Das ist wirklich beschissen“, machte ein polnischer Fahrer laut britischer Nachrichtenagentur PA seinem Ärger Luft. Die EU-Kommission hatte empfohlen, keine Sperren für den Warenverkehr zu verhängen.

Für die britische Regierung ist die Einigung mit Frankreich eher Schadensbegrenzung. Premierminister Boris Johnson hatte vor einer knappen Woche noch eisern an geplanten Lockerungen für die Weihnachtstage in England festgehalten. Sie abzusagen, sei „unmenschlich“, tadelte er die Forderungen von Labour-Chef Keir Starmer im Parlament. Noch im Sommer hatte Johnson gar angekündigt, Großbritannien werde bis Weihnachten wieder „zur Normalität zurückkehren“.

Am vergangenen Wochenende blieb Johnson angesichts der Ereignisse nichts anderes übrig, als die Notbremse zu ziehen. In drastischen Worten beschrieben er und seine wissenschaftlichen Berater ihre Erkenntnisse über die neue Virus-Mutation, die sich bis zu 70 Prozent schneller ausbreiten soll als ihr Vorgänger. Sie sei „außer Kontrolle“, sagte Gesundheitsminister Matt Hancock im Fernsehen. Das Ausland reagierte mit Einreisesperren.

Doch der Labour-Politiker Starmer kritisierte, der Fokus auf die Mutation sei falsch. Schon seit Wochen zeichne sich anhand steigender Infektionen eine Entwicklung ab, die rasches Handeln notwendig gemacht hätte. Das Vereinigte Königreich gehört mit inzwischen mehr als 67.000 Todesfällen bei nachweislich mit dem Virus infizierten Menschen zu den am heftigsten von der Pandemie getroffenen Ländern in Europa.

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Die Einschätzung von Deutschlands Top-Virologen Christian Drosten scheint Starmer Recht zu geben: Demnach verbreitet sich die neue Virus-Variante überall dort besonders schnell im Vergleich zu bereits bekannten Varianten von Sars-CoV-2, wo unzureichende Beschränkungen zu einem Anstieg der Infektionszahlen führen. In Gegenden in Großbritannien aber, in denen wirksame Maßnahmen gelten, sei auch die neue Variante weitgehend unter Kontrolle. Für Deutschland folgert Drosten daher, dass der Lockdown der Virus-Variante wenig Chancen auf eine Verbreitung lassen dürfte.

Die Heftigkeit der internationalen Reaktion soll die britischen Regierung überrascht haben: Hinter den Kulissen, so berichtete es die Londoner „Times“, war man in der Downing Street wutentbrannt über die Entscheidung Frankreichs den Warenverkehr am Ärmelkanal zu stoppen. Gewittert wurde, die Sperre solle als Hebel in den Brexit- Verhandlungen eingesetzt werden. Frankreich und vor allem dessen Präsident Emmanuel Macron ist von der britischen Boulevardpresse schon lange als Bösewicht im Ringen um einen Brexit-Handelspakt ausgemacht worden.

Der französische Staatschef ist wegen seiner Corona-Infektion immer noch in einer Präsidentenresidenz in Versailles isoliert, arbeitet aber. Zu den Themen, die er weiterverfolgt, gehören vor allem das Corona-Krisenmanagement und die Verhandlungen für einen Brexit-Handelsvertrag. Für den Brexit lautet die französische Linie, dass ein Deal gefunden werden solle, aber nicht um jeden Preis. Paris pocht vor allem auf Rechte für die französischen Fischer und die Bewahrung von fairen Wettbewerbsbedingungen mit London. Vor der Sperre der Grenze zu Großbritannien stimmte sich der Franzose am Wochenende mit Kanzlerin Angela Merkel und den EU-Spitzen ab.



Einen Tag vor Heiligabend ist von einem Durchbruch bei den Verhandlungen um einen Brexit-Handelspakt noch immer keine Spur. Gerüchte über einen baldigen Durchbruch im Streit um den künftigen Zugang für EU-Fischerboote zu den reichen britischen Fischgründen, erhärteten sich zunächst nicht. Kurz vor Ablauf der Übergangsphase kritisieren Europaabgeordnete scharf, dass immer noch kein Handelsabkommen steht. „Der Irrsinn geht weiter“, sagte der SPD-Brexit-Experte Bernd Lange. „Es ist nicht akzeptabel, dass Bürgerinnen und Bürger und Unternehmen wenige Tage vor dem 1. Januar nicht wissen, wie es weiter geht, und das in einer Lage, die sich wegen der Coronapandemie verschärft.“ Die Chancen auf Einigung schätzte er vorsichtig optimistisch ein.

Linken-Fraktionschef Martin Schirdewan sagte, eigentlich hätte ein Abkommen schon vor einiger Zeit fertig sein müssen, um noch eine demokratische Prüfung zu erlauben. „Von daher bleiben nur noch schlechte Optionen. Der schlechteste der schlechten Optionen wäre der No Deal. Damit würden negative soziale Folgen und Jobs riskiert. Das muss vermieden werden.“ Die beste Möglichkeit wäre, die Brexit-Übergangsfrist zu verlängern, sagte der Linken-Politiker.

Sollte es in den nächsten Tagen etwas werden, „müssen wir mit Notmaßnahmen Verwerfungen vermeiden“, sagte SPD-Experte Lange. Dann sollten die unbedingt nötigen Klauseln vorläufig angewendet und das Paket Anfang nächsten Jahres Ruhe geprüft und ratifiziert werden, sagte Lange. Schirdewan sagte, da auch die vorläufige Anwendung Vorlauf brauche, sähen EU-Juristen als letzte Frist für eine Einigung Heiligabend, mittags.

Johnson wiederholte noch am Montagabend sein Mantra, Großbritannien werde „mächtig florieren“, ob mit oder ohne Deal. Doch angesichts der Verwerfungen, die bereits jetzt am Ärmelkanal entstanden sind, dürfte die Frage angebracht sein, ob Johnson wieder einmal weit mehr verspricht als er halten kann.

Mehr zum Thema: In Jahren, die wie Jahrzehnte wirkten, konnten sich Großbritannien und die EU nicht auf ihre künftigen Handelsbeziehungen einigen.

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