Herr Stelter, Italiens Neuverschuldung ist der Zankapfel der Eurozone, das Land hat mit 132 Prozent des Bruttoinlandsprodukts eine doppelt so hohe Schuldenquote wie Deutschland. Wohlhabende Italiener transferieren ihr Geldvermögen bereits in die Schweiz. Was braut sich da zusammen?
Die Kapitalflucht in Italien findet weniger wegen der hohen Staatsverschuldung und der neuen Schulden im Haushaltsentwurf statt, sondern vor allem aus steuerlichen Sorgen und Angst vor Vermögensabgaben, die die Regierung verhängen könnte. Was wir in Italien beobachten, kann nur jene überraschen, die dachten die Eurokrise wäre überwunden. Wir haben es mit einem fundamentalen Problem zu tun: Italien hat sich von der Finanzkrise nie erholt. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf liegt deutlich unter dem Vorkrisenniveau. Verständlich, dass die Bevölkerung da unzufrieden ist.
Ginge es Italien ohne den Euro besser?
Das liegt nicht nur am Euro, sondern auch an strukturellen Probleme im Land, an der demografischen Entwicklung, et cetera. Der Euro hat es nur nicht gerade leichter gemacht für Italien. Im Gegensatz zu Belgien hat der italienische Staat auch nicht den Zinssenkungseffekt zur Entschuldung genutzt. Der Euro hat – so wie es eine IWF-Studie auch schildert – nicht zu einer Konvergenz in der Eurozone geführt, sondern zu mehr Divergenz. Das ist in der Finanzkrise ab 2009 deutlich hervorgetreten. In den südlichen Ländern waren die Produktivitätszuwächse geringer, die Wachstumsraten sanken, die Innovationskraft ließ nach. Alles, was man sich vom Euro erträumt hat, ist nicht eingetreten. Die Politik des billigen Geldes der Europäischen Zentralbank (EZB) hat das im Grunde nur kaschiert. Die EZB kann aber keine Wettbewerbsfähigkeit herstellen, sondern nur Zeit kaufen. Die haben die Italiener nicht genutzt.
Konnten sie nicht, oder wollten sie nicht?
Sie hätten es schon gekonnt. Aber unter der Regierung Berlusconi gab es auch keine Reformen, da wurde nur so durchgewurschtelt. Ein Beispiel: Die Erbschaftssteuer in Italien ist viel niedriger als etwa bei uns. Dort ist der Freibetrag mit einer Million Euro doppelt so hoch und der Steuersatz für Erben mit nur vier bis zehn Prozent signifikant unter dem Niveau in Deutschland. Außerdem liegt das Median-Vermögen der italienischen Haushalte bei 240.000 Euro, in Deutschland sind es hingegen 66.000 Euro. Eigentlich könnte die Regierung in Rom das Staatschuldenproblem ohne weiteres über Vermögensabgaben und Steuern lösen. Aber das machen sie halt nicht.
Zur Person
Daniel Stelter war von 1990 bis 2013 Unternehmensberater bei der Boston Consulting Group (BCG), zuletzt als Senior Partner, Managing Director und Mitglied des BCG Executive Committee. Seit 2007 berät Stelter internationale Unternehmen zu den Herausforderungen der fortschreitenden Finanzkrise. Zusammen mit David Rhodes verfasste er das 2010 preisgekrönte Buch „Nach der Krise ist vor dem Aufschwung“. Weitere Bücher folgten, so eine Replik auf das Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ des französischen Ökonomen Thomas Piketty unter dem Titel „Die Schulden im 21. Jahrhundert“. Stelter ist Gründer des auf Strategie und Makroökonomie spezialisierten Forums „Beyond the Obvious“, das Antworten auf die wirtschaftlichen und finanzpolitischen Fragen unserer Zeit sucht.
Daniel Stelters neues Buch „Das Märchen vom reichen Land – Wie die Politik uns ruiniert“, erschien am 10. September 2018 im Münchener Finanzbuchverlag (FBV).
Italien geht also eigentlich gut?
Die Privathaushalte in Italien sind gering verschuldet und sehr vermögend. Es ist ein reiches Land, nur der Staat hat nicht viel Geld. Das ist schon lange in der Kultur verankert. Der Staat setzt zudem seine Steuerforderungen nicht durch, es gab in Italien schon viele Steueramnestien für Steuerhinterzieher. Mit sagte mal ein italienischer Konzernchef, „Mit Vermögensabgaben kriegt ihr mich nicht, mein Geld ist in der Schweiz.“ Das ist dort weit verbreitet. Stattdessen hofft man in Rom auf europäische Solidarität oder darauf, dass die EZB die Anleiheschulden annulliert. Aus dortiger Sicht ist das die richtige Logik: In Italien besteuerte man die Wohlhabenden vor dem Euro über die Inflation, so funktionierte das da. Wenn der politische Wille da ist, sind aber Vermögensabgaben – zum Beispiel auf Immobilien – ohne weiteres möglich. Das wirft ein Schlaglicht auf Europa, wo man versucht, mit einer gemeinsamen Währung Volkswirtschaften zusammenzupacken, die strukturell und in ihrer Art, wie sie gemanagt werden, nicht zueinander passen. Aber man kann Italiens Regierung keinen Vorwurf daraus machen, dass sie versucht, die Privathaushalte zu schonen. Als italienischer Politiker würde ich genauso handeln. So gewinne ich doch Stimmen und Popularität, und wenn die EU am Ende dafür zahlt, umso besser.
Italiens Schulden sind also gar kein Problem?
Italien als Land ist nicht pleite, nur der Staat hat Probleme. Es gibt eine Studie der Stiftung Marktwirtschaft, die statt der offiziellen die echte Staatsverschuldung unter Berücksichtigung von Pensionsverpflichtungen, Rentensysteme, Gesundheitsausgaben und ähnlichem analysiert hat. So gerechnet hat Italien weniger Staatsschulden als Deutschland. Das liegt an Reformen der Vergangenheit, etwa der Kürzung der Altersvorsorge. Das möchte die jetzige Regierung zurückdrehen. Das Defizit steigt dann doppelt: durch höhere Leistungszusagen und höhere verdeckte Lasten für die Zukunft. Aber letztlich hat ja auch die deutsche Regierung solche Geschenke an die Rentner gemacht. Wer sind wir also, dass wir diese Form des Stimmenfangs kritisieren?

Aber sie missachten die Maastricht-Kriterien für die Eurostaaten.
Ich möchte vorausschicken: Die Italiener haben natürlich Recht, wenn sie sich darüber beschweren, dass Frankreich jedes Jahr die Maastricht-Kriterien verletzen darf – eben, weil es Frankreich ist -, aber bei ihnen ein Aufstand gemacht wird. Außerdem haben die Italiener Recht mit der Idee, dass sie das Wachstum fördern müssen, wenn sie die Staatsschuldenquote irgendwann mal in den Griff bekommen wollen. Ansonsten bleiben nur Zahlungsstopp und Vermögensabgaben. Mit staatlicher Nachfrage die Konjunktur zu beleben, ist völlig legitim. Die Kritik am Regierungsprogramm ist aber, dass es nur ein Strohfeuer entfacht, weil es lediglich den Konsum belebt, aber keine strukturellen Verbesserungen bringt. Vielmehr müssen sie jetzt strukturelle Probleme angehen, etwa durch eine Lockerung beim Kündigungsschutz zur Flexibilisierung des Arbeitsmarktes. Durch die Kombination aus Stimulus und Reform würde ein besseres Umfeld geschaffen. Dann würde ich sogar sagen, das Paket ist gut, gebt noch mehr Geld aus. Aber so bleibt es nur beim Stimulus und am Ende steigt die Schuldenquote.
Wenn die Schulden weiter steigen, kann die EZB die Zinsen nicht einfach erhöhen, ohne die Staatshaushalte stärker zu belasten.
Erstmal sind hohe Schulden nicht per se schlimm, siehe Japan. Damit lässt sich grundsätzlich leben. Aber in Europa führen hohe Schulden eines Landes irgendwann zu einer Umverteilung der Schulden und Vermögen auf andere Mitgliedstaaten. Einige sagen ja, Deutschland sei Hauptprofiteur der Finanzkrise und müsste Italien helfen. Aber was nützen die höheren deutschen Exporte, wenn wir im Gegenzug Zinsen senken, Darlehen geben im Rahmen von Target oder über eine Transferunion Schulden umverteilen. Dann könnten wir unsere Exporte auch verschenken! Das ist absurd. Was mich an der Argumentation besonders nervt: Warum sollten wir dafür bezahlen, wenn wir doch die ärmeren Privathaushalte haben? Wir schwafeln immer vom reichen Land, aber in Wirklichkeit sind wir viel ärmer als Italien, wenn man die verdeckten Verbindlichkeiten berücksichtigt.