Die Ereignisse überschlagen sich an diesem historischen Tag: Großbritanniens Premierminister David Cameron hat seinen Rücktritt angekündigt und will die Verhandlungen über den Austritt seines Landes aus der EU nicht mehr selbst führen. Wann diese beginnen werden, ist noch nicht abzusehen. Cameron machte in seiner Ansprache deutlich, er werde den Artikel 50 der Lissabon-Verträge, die den Prozess offiziell anlaufen lassen, persönlich nicht mehr aktivieren.
„Unser Land braucht einen neuen Kapitän, um das Schiff zu stabilisieren“, sagte Cameron. Bis zum nächsten Parteitag der Tories im Oktober soll Camerons Nachfolger feststehen – bis dahin wird die in der Europafrage zerrissene Partei sich wohl in heftige Führungskämpfe verstricken.
Pfund im freien Fall
Doch das Urteil ist gefallen: Mehr als die Hälfte der Briten, insgesamt 52 Prozent, haben sich für den Brexit ausgesprochen. Niemals zuvor hat ein wichtiges Mitglied die Europäische Union verlassen und nun wird Großbritannien, zweitgrößte Volkswirtschaft der Union, gehen. Ist das europäische Projekt damit gescheitert? Droht eine neue internationale Finanzkrise? Was bedeutet es für Deutschland und die Wirtschaft? Großbritannien und die EU stehen an einem Wendepunkt.
Die volle Bedeutung der historischen Entscheidung wird erst in den nächsten Tagen, Wochen und Monaten zu erkennen sein. Doch an den Märkten kündigt sich das Ausmaß der Katastrophe bereits an: Das Pfund befindet sich im freien Fall. Es ist im Verlauf der Nacht mit 1,34 Dollar auf den tiefsten Stand seit 1985 gefallen.
Um 22 Uhr, kurz nach der Schließung der Wahllokale, hatte eine Umfrage noch eine Mehrheit für das Remain-Lager prognostiziert, die britische Währung war daraufhin auf 1,50 Dollar hochgeschnellt.
Großbritannien und die EU - eine schwierige Beziehung
Seit mehr als 43 Jahren sind die Briten Mitglied der Europäischen Union. Doch jetzt ist der Austritt beschlossene Sache. Schwierig waren die Beziehungen von Anfang an. Ein Rückblick:
Als Gegengewicht zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) wird auf Initiative Londons die Europäische Freihandelszone (EFTA) gegründet, die keine politische Integration anstrebt.
Der französische Präsident Charles de Gaulle legt sein Veto gegen eine Mitgliedschaft der Briten in der EWG ein. 1973 tritt Großbritannien schließlich doch bei.
Erst nachdem Premier Harold Wilson die Vertragsbedingungen nachverhandelt hat, sprechen sich die Briten in einem Referendum mit 67,2 Prozent für einen Verbleib in der Gemeinschaft aus.
Mit den legendären Worten „I want my money back“ (Ich will mein Geld zurück) handelt die konservative britische Premierministerin Margaret Thatcher den sogenannten Britenrabatt aus. London muss fortan weniger in den Haushalt der Europäischen Gemeinschaft (EG) einzahlen.
EG-Länder beschließen im Schengener Abkommen die Aufhebung der Passkontrollen an den Binnengrenzen. Großbritannien macht nicht mit.
Der britische Premier John Major kündigt eine europafreundliche Politik seiner Konservativen Partei an, scheitert damit aber parteiintern. Er handelt aus, dass London nicht am Europäischen Währungssystem teilnimmt.
Der britische Premier Tony Blair gerät mit dem französischen Präsidenten Jacques Chirac über ein „Europa der zwei Geschwindigkeiten“ in Streit.
Blair lässt einen EU-Gipfel zum mehrjährigen Finanzrahmen der Europäischen Union (EU) scheitern, stimmt Monate später aber doch zu und akzeptiert ein Abschmelzen des Britenrabatts.
Mit Inkrafttreten des EU-Vertrages von Lissabon kann London wählen, an welchen Gesetzen im Bereich Inneres und Justiz es sich beteiligt. Zudem erwirkt die britische Regierung den Ausstieg aus mehr als 100 Gesetzen aus der Zeit vor dem Lissabon-Vertrag.
Der britische Premier David Cameron verweigert seine Zustimmung zum EU-Fiskalpakt.
Cameron droht mit einem Veto bei den Verhandlungen zum mehrjährigen Finanzrahmen der EU.
Cameron kündigt eine Volksabstimmung über den Verbleib Großbritanniens in der EU bis spätestens 2017 an. Bis dahin will er die Rolle seines Landes in der EU neu aushandeln und Befugnisse aus Brüssel nach London zurückholen.
London blockiert den Aufbau einer Europäischen Verteidigungsunion und lehnt grundsätzlich Doppelstrukturen von EU und Nato ab.
Nach Zugeständnissen der EU kündigt Cameron für den 23. Juni ein Referendum über den Verbleib Großbritanniens in der EU an.
Bei der Volksabstimmung votieren fast 52 Prozent der Briten für den Austritt.
Erste Stimmen für Spaltung Großbritanniens
Der Zerfall des Vereinigten Königreichs wird wohl nicht abzuwenden sein: in Edinburgh kündigte Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon an, Schottland sehe seine Zukunft weiterhin in der EU.
Auch Nordirland, das ebenso wie Schottland mehrheitlich für den EU-Verbleib gestimmt hatte und mit der Republik Irland eine Landesgrenze teilt, will bleiben. Schon werden erst Stimmen laut, die eine Vereinigung von Nord- und Südirland fordern. Großbritannien ist eine tief gespaltene Nation – immerhin wollten 48 Prozent – also fast die Hälfte der Wähler keinen Brexit. Doch die Benachteiligten und Globalisierungsgegner haben den Eliten und Premierminister David Cameron einen Denkzettel verpasst.
Während der viermonatigen, zum Teil mit sehr harten Bandagen geführten Wahlkampagne, hatte das von Premier Cameron angeführte Lager der EU-Befürworter vor allem die wirtschaftlichen Risiken eines Austritts in den Vordergrund gestellt, sich damit aber nicht durchsetzen können. Die große Mehrheit der Fachleute sagte zwar voraus, dass ein Brexit Europas zweitgrößter Volkswirtschaft schweren Schaden zufügen wird, schon in den vergangenen Monaten hatte sich die wirtschaftliche Dynamik angesichts der Ungewissheit abgeschwächt. Doch statt der Konjunktur dominierten die Themen Zuwanderung und Souveränität die politische Debatte.
Briten wollen weniger Ausländer im Land
Das zeigte sich auch am Donnerstag, dem Tag des Referendums. Für Janet und Ken, Fans von der Fußballmannschaft West HamUnited aus dem Ostlondoner Stadteil Newham, die am Morgen schon früh für den EU-Austritt gestimmt hatten, gab es nie einen Zweifel: „Wir sind beide für Out, es gibt einfach zu viele Ausländer hier“, so Janet klipp und klar zur WirtschaftsWoche. Das ältere Ehepaar, er geh- und sprechbehindert - klagte über die bekannten Missstände: lange Warteschlangen wenn Ken einen Arzt-Termin braucht, eine Sozialwohnung wurde ihnen verweigert und Ken bekam nachdem er seinen Job verloren hatte auch keine Sozialhilfe – weil er 6000 Pfund Ersparnisse hatte.
"Morgenröte eines unabhängigen Großbritannien"
Ausländer aus der EU dagegen könnten das Gesundheitswesen kostenfrei und würden auch sonst finanziell unterstützt. Janet schüttelt empört den Kopf. Von Nigel Farage, dem kontroversen Chef der United Kingdom Indpendence Party (UKIP) fühlt sich jedoch verstanden. Farage sah sich am Freitagmorgen nach einer langjährigen Kampagne für den Austritt aus der EU endlich am Ziel: „Wir erleben die Morgenröte eines unabhängigen Großbritannien“, jubelte er.
Doch nach Ansicht von Experten ist die Zukunft düster, in der makroökonomischen Diskussion herrscht diesbezüglich weitgehend Einigkeit. Die Bank of England, der Internationale Währungsfonds, die OECD und das renommierte Institut for Fiskal Studies (IFS) – sie alle hatten im Brexit-Fall vor einer Rezession gewarnt, schon im Vorfeld der Entscheidung hatten Unternehmen ihre Investitionen auf Eis gelegt.
„Dies ist ein Blutbad - nicht nur an den Finanzmärkten. Die Entscheidung wird auch in der Realwirtschaft schwerwiegende Folgen haben“, so der ehemalige Wirtschaftsminister Vince Cable in den frühen Morgenstunden dieses Schicksalstages. Die Bank of England, die sich bereits seit Monaten auf diesen Tag vorbereitet hatte, dürfte jetzt die Zinsen senken, um die Märkte zu beruhigen, so der Volkswirt Danny Blanchflower. Blanchflower war früher ein Mitglied des geldpolitischen Ausschusses der Bank of England.
Auch eine Intervention am Devisenmarkt ist nicht auszuschließen, doch der Investor George Soros, der 1992 gegen die BoE gewettet und den Ausstieg des Pfundes aus der Währungsschlange EWS erzwungen hatte, glaubt, dass nun unweigerlich eine neue Pfundkrise bevorsteht: „Der Brexit wird zu einem schwarzen Freitag führen, der den schwarzen Mittwoch von 1992 in den Schatten stellt. Wir werden eine drastische Abwertung sehen, die noch größer ausfallen dürfte als die damaligen 15 Prozent“, sagte Soros dem Guardian. Anders als vor 24 Jahren werde die britische Wirtschaft aber nicht von der Abwertung profitieren können“, orakelte er.
Nicht zuletzt dürften die Ratingagenturen das Inselreich nun zurückstufen, das angesichts seines hohen Leistungsbilanzdefizits schon vorher in einer äußerst gefährlichen Lage war. Standard and Poor’s hatte vor dem Referendum bereits damit gedroht, Großbritannien beim Brexit das AAA-Rating zu entziehen. Das wird ein Problem, warnt Darren Williams, Senior Economist, Europe bei er Investmentgesellschaft AB: „Das Land ist für die Finanzierung seiner öffentlichen und privaten Haushaltsdefizite von ausländischen Investoren abhängig. Ein Brexit könnte zum Versiegen der benötigten Kapitalflüsse führen“.
Aufreibende Austrittsverhandlungen werden erwartet
Bis auf weiteres bleibt Großbritannien formal noch Mitglied der EU, für die Unternehmen bedeutet dies weiterhin einen ungehinderten Zugang zum Binnenmarkt. Die nächsten zwei Jahre werden jedoch von aufreibenden den Austrittsverhandlungen dominiert sein, formal beginnen sie, sobald Großbritannien den Paragraph 50 des Lissabon-Vertrages aktiviert. Wann das sein wird ist jedoch unklar, da die Brexit-Befürworter unter der Führung von Justizminister Michael Gove und Boris Johnson sich stets dafür ausgesprochen hatten, diesen Prozess erst nach mehreren Monaten anlaufen zu lassen. Cameron will damit allerdings nicht warten.
Konsequenzen des Austritts sind noch unklar
Welche wirtschaftlichen Konsequenzen der Austritt für Großbritannien, das rund 45 Prozent seiner Exporte an die EU verkauft, haben wird, wird auch davon abhängen, ob die übrigen Europäer zu Konzessionen bereit sind, was den Zugang zum Binnenmarkt angeht. Markus Kerber, der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Industrie BDI hatte hier am Dienstag bereits zur Kompromissbereitschaft aufgerufen: „Es wäre verrückt, Handelsbarrieren gegen Großbritannien zu errichten“, sagte er der BBC.
Der BDI dränge die Politiker auf allen Seiten ein Arrangement für ein Handelsregime zu finden, welches es erlaube, den Warenaustausch auf dem bisherigen Niveau aufrecht zu erhalten, so Kerber. Howard Archer, Chefvolkswirt von IHS meint allerdings. “sollte es zu einem harten Exitszenario kommen, wird es ein langwieriger und aufreibender Prozess“. Holger Schmieding, Chefvolkswirt der Berenbergbank warnt, dass nicht nur ein kurzfristigen Schock sondern auch langfristige Folgen für die britische Konjunktur zu erwarten seien.
Natürlich sehen die Brexit-Protagonisten das anders: sie wünschen sich weiterhin eine „Kontinuität der Freihandelsabkommen, die wir jetzt bereits haben. Wir müssen Ruhe und einen kühlen Kopf bewahren“ so Andreas Leadsom eine führende Brexit-Befürworterin, „Dies ist eine wunderbare Chance für Großbritannien“, erklärte sie.
Der Think Tank Open Europe gab allerdings schon vor einer Weile zu bedenken, dass der Zugang zum Binnenmarkt nur mit erheblichen Zugeständnissen auf britischer Seite möglich sein dürfte: weitere Einzahlungen in den EU-Haushalt etwa und die Akzeptanz, dass für Arbeitskräfte auch weiterhin Freizügigkeit zwischen Großbritannien und der EU herrschen müsse.
Politisch allerdings kaum machbar, da die britischen Wähler sich ja ausdrücklich eine Reduktion der Zuwanderung wünschen. Dem britischen Parlament kommt hier allerdings eine Schlüsselstellung zu, denn anders als in der Gesamtbevölkerung ist dort die Mehrheit der Abgeordneten für den Verbleib in der EU gewesen: Von den 650 Abgeordneten waren nur 130 für Brexit. Deshalb könnte es sein, dass man dort einen Kompromissvorschlag sucht.
Die Nerven bei den Banken liegen blank
Zunächst einmal aber hatten die Märkte das Wort. Der Schock über das Votum war riesig, schließlich hatte die meisten Analysten und Volkswirte eine knappe Mehrheit für den Verbleib in der EU prognostiziert. „Deshalb war auch die erste Reaktion an den Devisenmärkten so unwahrscheinlich negativ“, meint Dean Turner von der Investmentbank UBS. Für Freitagmorgen hatten alle großen Banken Telefonkonferenzen mit Großkunden anberaumt – ihre Nerven dürften nun angesichts der Fehlprognosen der hochbezahlten Finanzexperten blank liegen. Malcolm Sweeting, Senior Partner bei der Rechtsanwaltsfirma Clifford Chance, die ihren Klienten bereits in der Nacht über eine Hotline Rat und Unterstützung anbot, erklärte: „Wir arbeiten mit unseren Kunden daran, sie auf die künftigen Herausforderungen vorzubereiten“.
Tatsächlich hatte am Donnerstag am größten Finanzplatz Europas, dessen Zukunft jetzt auf dem Spiel steht, noch große Zuversicht geherrscht. In Canary Wharf, Londons modernem Finanzzentrum waren auch am Abstimmungstag überwiegend EU-Befürworter zu finden. Will etwa, der am Donnerstagmittag am Rande des großen Springbrunnens vor der Investmentbank Credit Suisse sein Sandwich verzehrte, trug sogar einen „I`M IN“ Sticker. „Klar ich bin für Remain, wie die meisten hier im Finanzdistrikt“ sagt er, schon allein des Geschäfts wegen.
Als Geldwäsche-Experte war er allerdings nicht einer der vielen Banker, die die Nacht zum Donnerstag im Büro verbrachten. Auch Sam und Abysh planten das nicht, hielten sich aber für den Brexit-Fall auf Abruf bereit. Die beiden handeln beruflich mit europäischen und internationalen Aktien beide rechneten mit einer knappen Mehrheit für „Remain“. Sam zeigte dennoch einen Anflug schwarzen Humors: „Vielleicht werde ich ja bald Deutsch lernen und nach Frankfurt umziehen müssen“, sagte er und verzog das Gesicht.
In den Handelsabteilungen der meisten Banken in London brannte allerdings die ganze Nacht das Licht. Ben hatte sich für einen sehr frühen Start am Freitagmorgen gerüstet: „Ich werde schon ab 2.30 Uhr morgens im Büro sein“ textete der Währungsexperte einer internationalen Investmentbank der WirtschaftsWoche am Donnerstagabend. Denn der Devisenhandel kennt keine Pause. Schon um drei Uhr morgens verschickte er eine erste Einschätzung an seine Kunden, der Yen entwickle sich zur Fluchtwährung, stand dort.
Cameron hinterlässt ein uneiniges Volk
David Camerons Karriere ist zu Ende, auch wenn er nun nicht sofort abtritt, um in dieser schweren Krise ein politisches Vakuum zu verhindern. Matthew Laza, Direktor des britischen Think Tanks Policy Network meint: „Der neue Parteichef – womöglich nicht der Joker Johnson – wird ein Brexit-Vertreter sein.“ Vorgezogene Neuwahlen scheinen nicht unwahrscheinlich, eine Spaltung der Tory-Partei möglich. Denn der Partei drohen Führungskämpfe – als potentielle Nachfolger Camerons halten sich unter anderem Ex-Bürgermeister Johnson und Innenministerin Theresa May bereit.
Auch Finanzminister George Osbornes Rücktritt ist programmiert. Sehr fraglich, ob er den im Brexit-Fall angekündigten Nothaushalt, der neue drastische Sparpläne enthalten sollte, überhaupt noch realisieren kann.
Cameron jedenfalls wird in die Geschichtsbücher als derjenige britische Regierungschef eingehen, der Großbritannien aus der EU geführt und wahrscheinlich auch eine endgültige Abspaltung Schottlands zu verantworten hat. Er hinterlässt ein uneiniges Volk. Möglicherweise sogar ein unregierbares Land.