Zwei wichtige Dinge haben wir in den vergangenen Wochen gelernt. Erstens: Europa ist auf sich allein gestellt. Spätestens mit den Zöllen, die US-Präsident Donald Trump auf europäische Waren wie Stahl und Aluminium verhängt hat, fallen die USA bis auf Weiteres als verlässlicher Partner aus. Ein Handelskrieg wird immer wahrscheinlicher.
Zweitens: Der wirtschaftliche Boom im Euro-Raum wird nicht ewig andauern. Eine Reihe von Wirtschaftsindikatoren zeigt, dass der Aufschwung vielleicht schon wieder vorbei ist. Laut Schätzungen des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung IMK hat die Wahrscheinlichkeit für eine Rezession 2019 stark zugenommen. Wirtschaftsforschungsinstitute wie die unseren in Berlin und Halle prognostizieren eine konjunkturelle Abkühlung. Die Unsicherheit über den wirtschaftspolitischen Kurs der USA, der Protektionismus, ein mögliches Ende der Niedrigzinspolitik, die Krise in Italien und die unklaren Folgen des Brexits scheinen nun Wirkung zu zeigen.
Auf den ersten Blick haben die beiden Erkenntnisse nicht viel miteinander zu tun. Auf den zweiten machen sie klar, dass Deutschland es sich nicht leisten kann, Reformen in der Europäischen Union weiterhin zu blockieren. Positiv formuliert: Wer die EU stärkt, tut viel dafür, eine neue Wirtschaftskrise zu vermeiden.
Viele Länder haben ihre Strukturen reformiert, was ihnen mehr Wettbewerbsfähigkeit bringt. Die großen Banken werden besser beaufsichtigt. Verglichen mit der Zeit vor der Finanzkrise, haben sie ihr Eigenkapital verdoppelt. Auch eine Stärkung des Rettungsschirms ESM, wie sie Kanzlerin Angela Merkel vorgeschlagen hat, wäre ein Schritt in die richtige Richtung.
Trotzdem: Vieles ist unerledigt. Die Kapitalmärkte der Euro-Zone sind nach wie vor hoch fragmentiert, zu viele Banken haben noch immer faule Kredite in ihren Bilanzen. Die Abhängigkeit zwischen den Banken und ihren Nationalstaaten hat deutlich zugenommen, sodass die Schieflage einzelner Banken in Zukunft zu noch höheren Risiken führt. Die Vorschläge der Bundeskanzlerin gehen kaum auf die Fragen ein, wie diese Risiken begrenzt und wie die europäische Bankenunion und die Kapitalmarktunion gestaltet werden sollen. Die Bundesregierung hat schweren Herzens einem Budget für den Euro-Raum zugestimmt, aber sperrt sich gegen ein Instrument zur wirtschaftlichen Stabilisierung. Sie ist gegen eine risikolose EU-Anleihe, die als Referenzpunkt für andere Vermögensgegenstände dienen kann und daher dringend als Stabilitätsanker nötig ist. Sie ist gegen eine gemeinsame Einlagensicherung und verhindert damit die Vollendung der Bankenunion.
In Deutschland sträuben sich selbst manche Ökonomen dagegen, die EU fit zu machen. 154 Professoren haben jüngst einige erstaunliche Forderungen gestellt. Erstaunlich deshalb, weil ihre Vorschläge die Probleme der Euro-Zone keinesfalls lindern würden, im Gegenteil. Ein Beispiel: Die Forscher wehren sich gegen Einlagensicherung und eine risikolose EU-Anleihe, wie sie derzeit diskutiert wird. Doch ohne diese Instrumente würden deutsche Banken keinesfalls sicherer. Wir wissen spätestens seit der vergangenen Finanzkrise, dass Finanzmärkte und Institutionen international sehr stark vernetzt sind. Finanzströme interessieren sich nicht für Ländergrenzen. Das bedeutet, auch deutsche Banken wären stärker Ansteckungseffekten auf den Finanzmärkten ausgesetzt. Es ist ein Irrtum, zu glauben, die Mitgliedstaaten würden ohne europäischen Rettungsschirm mehr Eigenverantwortung übernehmen und deshalb besser dastehen.
Die Kritiker der EU vergessen, dass Eigenverantwortung nur ein Teil einer funktionierenden sozialen Marktwirtschaft in Europa ist. Solidarität ist genauso wichtig. Das müsste jedem, der sich auf „ordnungspolitische Werte beruft“, wie es einer dieser kritischen Ökonomen jüngst in der WirtschaftsWoche tat, bewusst sein. Denn ohne eine gemeinsame Absicherung können viele die geforderte Eigenverantwortung gar nicht erst übernehmen. Für Europa und einen erfolgreichen Euro sind letztlich immer beide Seiten der Medaille entscheidend: Risiken teilen und Risiken verkleinern. Selbst verantwortlich handeln und miteinander solidarisch sein. Krisen bewältigen und Krisen vermeiden.
Wer einen dauerhaft stabilen Euro will, muss einer Vertiefung der EU zustimmen. Wir brauchen eine kluge Vollendung von Banken- und Kapitalmarktunion und einen Mechanismus zur makroökonomischen Stabilisierung. Alles andere ist Wunschdenken und Augenwischerei. Deutschland sollte von der Bremse gehen und sich an die Spitze der Reformbemühungen stellen. Mit seiner gegenwärtigen Blockadepolitik ist Deutschland eine Gefahr für die EU. Die Zeit läuft Europa davon.