Der Gaspreis-Poker Winter 2021: Wenn Heizen in Europa zum Luxus wird

Quelle: imago images

Geschätzt 100 Milliarden Euro werden Haushalte in der EU zusätzlich zahlen müssen, um in den kommenden Monaten nicht im Kalten zu sitzen. Regierungen zahlreicher EU-Länder steuern gegen und fordern Maßnahmen aus Brüssel.

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Dieser Winter könnte richtig hart werden. Um 170 Prozent ist der Preis von Erdgas in der EU seit Januar gestiegen. Auch die Strompreise in Europa tendieren deutlich nach oben, in Spanien etwa hat sich der Strompreis seither verdreifacht. Eine Trendwende ist nicht in Sicht. Wenn die Preissignale nicht ernstgenommen werden, könnte sich die Lage sogar noch deutlich zuspitzen. „Niedrige Gasvorräte und ein kalter Winter könnten zu Versorgungsengpässen führen, wenn Regierungen das schlecht managen“, befürchtet Energiefachmann Georg Zachmann vom Brüsseler Thinktank Bruegel.

An den grundlegenden Faktoren lässt sich auf die Schnelle nichts ändern. Weltweit ist die Nachfrage nach Energie gestiegen, gleichzeitig drosselt Russland seine Erdgaslieferungen nach Europa. (Mehr dazu lesen Sie hier: Moskaus Gasmonopoly)

In Europas Hauptstädten hat das Rechnen begonnen. Die griechische Regierung kommt zu dem Ergebnis, dass Europas Verbraucher in diesem Winter geschätzt 100 Milliarden Euro mehr für Heizung und Elektrizität zahlen werden müssen. Am stärksten wird es Haushalte mit geringem Einkommen treffen, bei denen Strom und Heizung einen größeren Anteil der Ausgaben ausmachen. Der Europäische Gewerkschaftsbund schätzt, dass bei drei Millionen Europäern – trotz Arbeit – das Geld für das Heizen nicht reichen wird.

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Das Wort von Energiearmut macht die Runde. Dass Geringverdiener leiden, wenn sich Energie verteuert, war bekannt, als die EU-Kommission im Juli ihre Pläne für die Energiewende hin zu erneuerbaren Energien vorstellte. Um die sozialen Folgen abzufedern, sieht die EU explizit einen Milliarden schweren Fonds vor, der den Green Deal begleiten soll. Doch der Preisanstieg kommt nun schon, bevor Europa ernsthaft aus der fossilen Energie aussteigt. Dass explodierende Heizkosten schon in diesem Winter ein Problem werden könnten, ahnte im Sommer kaum jemand.

EU-Länder versuchen, national gegenzusteuern. Die spanische Regierung schränkt die Gewinne der Energieversorger ein und will auf diesem Weg bis kommenden März 2,6 Milliarden Euro von Unternehmen zu den Verbrauchern zu schleusen. Spanien will außerdem Gewinne aus dem Emissionshandel einsetzen, um die Stromrechnung für Endverbraucher zu dämpfen. Bis zum Jahresende ist zudem die Mehrwertsteuer auf Strom ausgesetzt.

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von Cordula Tutt, Florian Güßgen, Silke Wettach

In Frankreich hat die Regierung Millionen einkommensschwachen Haushalten eine Einmalzahlung von insgesamt 100 Euro versprochen. Italien arbeitet ebenfalls an einem Programm, um den Anstieg der Energiepreise abzufedern. Zahlreiche Regierungen drängen auf eine europäische Lösung. „Die aktuellen Strompreise sind kein nationales Problem, sondern haben eine europäische Dimension“, schreibt die spanische Regierung an die Adresse der EU-Kommission. Beim jüngsten Treffen der Energieminister in Slowenien teilten viele Teilnehmer die Sorgen der Spanier. EU-Energiekommissarin Kadri Simson kündigte für die kommenden Wochen ein Maßnahmenpaket an, stellte aber grundsätzlich das Design des Strommarkts nicht in Frage. Energiepreise sollen auch beim EU-Gipfel Ende Oktober Thema sein.

Griechenland hat bereits einen konkreten Vorschlag vorgelegt, wie die EU gemeinsam die hohen Preise abmildern könnte. Der Regierung von Kyriakos Mitsotakis regt an, vorübergehend einen Fonds anzulegen, der sowohl Haushalte entlasten soll, als auch Unternehmen die Möglichkeit bieten soll, CO2-Zertfikate zu erwerben, und sich so vor steigenden CO2-Preisen zu schützen.

Finanziert werden soll der Fonds aus Erlösen aus dem Emissionshandel. Besonders brisant: Die griechische Regierung regt an, künftig zu erwartende Einnahmen in die Umverteilung einzubeziehen. Die Gelder des Fonds sollen nach dem Willen der griechischen Regierung nach einem Schlüssel an die Mitgliedsstaaten verteilt werden, der jeweils die Wirtschaftsleistung und den Energieverbrauch berücksichtigt. Der Vorschlag müsste von einer Mehrheit der Mitgliedsstaaten und dem Europäischen Parlament unterstützt werden, um eine Chance auf Umsetzung zu finden.

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Die aktuellen Debatten geben einen Vorgeschmack auf die Diskussionen zum Kommissionspaket Fit for 55 vom Juli. Darin hatte die EU-Kommission vorgeschlagen, das Heizen in den Emissionshandel einzubeziehen. Der Vorschlag wird von der Bundesregierung unterstützt, trifft aber in Frankreich auf Ablehnung. Präsident Emmanuel Macron hat Angst, dass die Gelbwesten wieder protestieren. 2018 war die Bewegung als Reaktion auf eine Ökosteuer entstanden, die Benzin verteuerte.

Mehr zum Thema: Die Gaspreise in Europa sind hoch wie nie, die Angst vor einem kalten Winter ist groß. Der Kreml und der russische Konzern Gazprom nutzen die Situation, um Europa Druck zu machen – und nehmen in Kauf, ihren Ruf als verlässlicher Versorger zu verlieren.

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