Deutscher Investitionsboom in Polen „Noch glaube ich an die Klugheit des polnischen Volkes“

Polnische Bürger bei Protesten gegen die Politik der Regierung. Quelle: dpa

Deutsche Unternehmen brauchen Raum, wo sie schnell und unbürokratisch expandieren können – Polen braucht dringend mehr Steuereinnahmen, um den "Polish Deal" zu finanzieren. Ein perfektes Match – daran ändern auch die politischen Spannungen nichts, findet Polen-Expertin Ella Grünefeld.

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Als deutsch-polnische Unternehmensberaterin navigiert Ella Grünefeld seit mehr als 20 Jahren die zunehmende Verzahnung der deutschen und der polnischen Wirtschaft. Die gebürtige Polin, die in Deutschland und in Polen lebt, kennt die polnische Arbeitswelt wie ihre Westentasche, weil sie in Turnaround-Situationen immer wieder als Interims-Managerin fungiert. Zuletzt leitete sie die Restrukturierung eines Möbelindustrie-Zulieferers in Polen.

Denken Sie, dass die aktuelle politische Lage deutsche Unternehmen vom Schritt nach Polen abhalten sollte?
Ella Grünefeld: Der aktuelle Streit um die Rechtsstaatlichkeit mit der EU, Zustimmung für rassistische und homophobe Verhaltensweisen seitens der Regierung, ein Vorzeigepatriotismus, der Fremdenhass schürt, stimmen mich nachdenklich. Ich rate zum Abwarten, bis das polnische emotional-patriotische „Säbelrasseln“ sich beruhigt hat und auf der Gegenseite eine rationale Analyse vorliegt. Klar ist, dass die Regierung ganz viele Steuereinnahmen braucht, um die Versprechen einzuhalten, die sie nach den nächsten Wahlen an der Macht halten sollen. Deutsche Unternehmen arbeiten effizient und compliance-konform, deshalb sind sie nützlich – auch wenn nach innen an das Wahlvolk durch die Staatsmedien ganz andere Signale gesendet werden. Momentan beobachte ich eine starke Unterstützungsbereitschaft seitens der Sonderwirtschaftszonen, um neue Investoren im Land anzusiedeln.

Aber sollte es deutsche Unternehmen nicht sorgen, wenn es aus Polen Deutschland- und EU-feindlich tönt?
Die meisten Menschen in Polen sind apolitisch. Sie wollen in Ruhe arbeiten, Geld verdienen und leben, unabhängig von dem großen politischen Geschehen drum herum. Das sind gute Voraussetzungen für Sicherheit der Investitionen. Noch glaube ich an die Klugheit des polnischen Volkes, Solidarność hat vor 40 Jahren den Weg gezeigt. Andererseits habe ich vor einigen Jahren erlebt, wie schnell eine Betriebsverlagerung aus Polen ins Ausland ging. Sollte sich die politische Situation extrem zuspitzen, dann warten hinter den Grenzen schon andere Länder.

Untrnehmensberaterin und Polen-Expertin Ella Grünfeld. Quelle: PR

Warum zieht es so viele deutsche Unternehmen dennoch nach Polen?
Die Wirtschaft in Polen boomt trotz der umstrittenen politischen Situation im Land, der Warenaustausch zwischen beiden Ländern hat ein nie da gewesenes Niveau erreicht. Das liegt nicht nur an Polens geografischer Lage am EU-Ostrand, sondern auch an EU-Fördermitteln, an günstigen Lohnkostenstrukturen und einer guten Ausbildung der Arbeitskräfte. Aktuell beflügelt eine Umorganisation der weltweiten Lieferketten diesen Trend noch zusätzlich. Der Transport von Gütern aus Fernost hat sich so drastisch verteuert und verlangsamt, dass Unternehmen ihre Fertigung von Waren für den europäischen Markt zurück auf den Kontinent verlagern, siehe zuletzt der Chipmangel in der Automobilindustrie. Dabei gilt Polen als Standort oft als erste Wahl.

Wie laufen denn Genehmigungsverfahren bei polnischen Behörden?
Ich habe einige große Investitionen in Polen begleitet. Die Umweltauflagen müssen alle erfüllt werden, Polen hat hier vorausschauend strenge Standards eingeführt. Gerade die aktuelle Regierung schaut Unternehmen, die aus Deutschland kommen, besonders auf die Finger. Allerdings geht der Genehmigungsprozess für Investitionen hier viel schneller als in Deutschland, und dazu gibt es Zuschüsse, Steuernachlässe und Incentives, insbesondere in den Sonderwirtschaftszonen.

Inwieweit sind auch die Energiepreise in Polen ein Anreiz für deutsche Unternehmen?
Ich erinnere mich, dass ein US-Kunde von Heinz Glas, der sehr scharf kalkulierte, sich extra für die Produktion in Polen entschieden hat – und zwar nicht wegen der der Arbeitskosten, sondern wegen der Energiekosten. Seitdem sind die Strompreise aber auch in Polen angestiegen – wegen der CO2-Besteuerung, denn in Polen wird der Großteil der Energie noch aus Braunkohle gewonnen oder im Ausland eingekauft.

Die Löhne steigen auch in Polen deutlich. Handelt es sich überhaupt noch um ein Billiglohnland?
Polen ist längst kein Billiglohnland mehr. Hier wird meist in Produktion von hochpreisigen Erzeugnissen und Komponenten investiert, die die aktuelle Lohnkostenhöhe rechtfertigen. Wem es einfach nur auf billige Arbeitskräfte ankommt, den zieht es eher nach Rumänien, Bulgarien oder weitere Balkanländer. Polen bietet sehr gut ausgebildete, technisch affine Arbeitskräfte zu attraktiven Löhnen – genau die richtige Balance. Zwar liegt die Produktivität in Polen etwa 15 bis 20 Prozent unter der deutschen, das Lohnniveau bewegt sich aber nach wie vor etwa auf einem Drittel des deutschen. In Polen entstehen nagelneue Fabriken mit hochmodernen Maschinen und hohem Automatisierungsgrad auf dem Reißbrett, während tradierte Werke in Deutschland manchmal durch ihre gewachsenen Strukturen an Grenzen stoßen. Die Opel-Mutter Stellantis etwa hat in Polen viel modernere Anlagen als in Rüsselsheim.

Unternehmen wachsen also lieber in Polen als in Deutschland?
Hierzulande sind Flächen neben bestehenden Werken oft schon zugebaut oder sehr teuer, was Betriebserweiterungen unmöglich oder unwirtschaftlich macht. In Polen kauft man sich einfach eine Option auf Erweiterung, denn Grund und Boden sind da noch günstig zu haben. Auch die Qualitätskontrolle in der Produktion läuft in Polen ganz anders als in Deutschland.

Wie meinen Sie das?
In Deutschland verbietet das Arbeitsrecht, die Identität des Personals im Qualitätsreporting preiszugeben. So kann man im Produktionsprozess nicht nachvollziehen, wer genau den Fehler gemacht hat. In Polen dagegen kennt man sogar den Vor- und Nachnamen der Packerin eines Produkts oder wenigstens die Dienstnummer und kann den Verantwortlichen zum Beispiel durch Schulungen fördern.



Gibt es denn keine Gewerkschaft? Die Solidarność war doch einst extrem stark.
Die Solidarność ist zersplittert in vier Untergruppen, jede will mitregieren, es wird  untereinander viel gestritten. In der Privatwirtschaft spielen sie kaum eine Rolle. Am besten leben die Gewerkschaften noch in den Staatsbetrieben. Die Menschen aber fühlen sich an den Kommunismus erinnert und damit wollen sie nichts zu tun haben. Das finde ich schade, weil sowohl Gewerkschaften als auch der Betriebsrat ein wichtiges Korrektiv für die Geschäftsleitung sind. Das geht allerdings nur, wenn die Zusammenarbeit verantwortungsvoll und konstruktiv verläuft, und nicht mit Kräftemessen und Streikandrohung endet, was ich auch selbst erlebt habe. Im Rahmen des betrieblichen Mitbestimmungsgesetzes wurde eine Arbeitnehmervertretung vorgeschrieben.

Deutsche Unternehmen ballen sich etwa in Niederschlesien oder Posen. Ist dort das Ausbildungsniveau besonders hoch?
Nein. Diesen Fehler, begehen deutsche Investoren oft, und zwar nicht nur in Polen. Es zieht sie dorthin, wo andere deutsche Unternehmen schon ansässig sind. Man könnte meinen, weil das Leben in einer intakten German Community in Posen oder Breslau für das Management besonders angenehm ist. Aber so setzt im Wettbewerb um Arbeitskräfte der Kannibalismus ein. Das führt an diesen beliebten Orten zu Lohnkosten, die gar nicht mehr so viel niedriger sind als in Deutschland und macht auch die Arbeitsmoral kaputt. Dabei gibt es in Polen immer noch gute Regionen wie zum Beispiel den Süd- oder Nordosten, wo die Infrastruktur gut und qualifizierte Arbeitskräfte günstiger sind. Da sind sie Menschen noch froh, wenn sie einen festen, hochwertigen Arbeitsplatz finden, statt nach Skandinavien, UK oder Benelux auf Arbeitssuche zu pendeln.

Wie kommt es denn, dass in Polen Arbeitskräfte auch in strukturschwachen Regionen so qualifiziert sind?
Polnische Schüler und Mitarbeiter, wenn es darum geht etwas Neues zu lernen, hochmotiviert. Kulturbedingte Kreativität und Technikbegeisterung spielen dabei eine große Rolle.

Zu kommunistischen Zeiten war die berufliche Bildung in Polen absolut beispielhaft in Europa. Einige ältere Mitarbeiter geben noch ihr Fachwissen heute weiter. Nach der Transformationsphase hat man die Berufsschulen reformiert, die Schul- und Betriebswerkstätten aufgelöst und es entstand ein Vakuum. Die große Bildungsreform nach 2015 hat das polnische Bildungssystem auf die Linie der regierenden Partei gebracht – es werden noch immer je zwei Stunden die Woche Religion und Staatskunde unterrichtet, obwohl wir für moderne Arbeitsplätze mehr Mathematik und Physik brauchen. Aber die AHK in Warschau macht sich seit Jahren für die duale Ausbildung nach deutschen Standards stark. Die meisten Automotive-Betriebe haben sich dem angeschlossen. Die Unternehmen bilden in den Berufsschulen sogenannte Patronatsklassen, wo der Lehrstoff an deren Bedürfnisse und die deutschen Berufsbilder angepasst ist, so dass genau die Fertigkeiten unterrichtet werden, die auch gefragt sind.

Mir fiel auf, dass in polnischen Fabriken ein viel höherer Anteil von Frauen arbeitet als in Deutschland.
Die Polinnen sind viel emanzipierter als die deutschen Frauen. Es ist entscheidend für deutsche Unternehmen vor Ort, das zu erkennen und nicht einfach deutsche Strukturen und Firmenkultur in die polnischen Niederlassungen zu exportieren – das kann zu einer niedrigeren Performance führen. Polnische Mitarbeiter haben kein Problem mit der Akzeptanz von weiblichen Chefinnen. Manche deutsche Schlüsselunternehmen wissen darum. Zum Beispiel werden Siemens und BASF in Polen von Frauen geführt. Auch Bosch hatte lange eine weibliche CEO, sie ging erst von einem Jahr in den Ruhestand. Auch das öffentliche Gesicht von Mercedes Polska ist eine Frau. Seit dem Sommer sind in Volkswagen Polska zwei polnische Vorständinnen und ein deutscher CEO. Ich persönlich erlebe es eher, dass es für mich als Frau in Deutschland schwieriger ist, ein Interimsmandat zu erhalten, als dass ich in Polen als Chefin akzeptiert werde.

Sie beraten deutsche Unternehmen auch in kulturellen Fragen. Unterscheidet sich die Mentalität sehr?
Die Polen gelten als die Italiener des Nordens. Sie sind spontan und lieben kreative Problemlösungen. In Deutschland mag man lieber viel Struktur. Das passt sehr gut zusammen und steigert die Synergien enorm. In Polen ist es wichtig, die Emotionalität der Menschen anzusprechen und sie als Person wahrzunehmen. Während man in Deutschland das Persönliche und das Berufliche stark trennt, betrifft ein Problem am Arbeitsplatz in Polen immer die ganze Person. Da braucht es bei der Führungsarbeit viel Fingerspitzengefühl.

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Sind deutsche Unternehmen denn als Arbeitgeber beliebt?
Aber selbstverständlich. Sie gelten als zuverlässig, die Regeln sind klar, die Vereinbarungen werden eingehalten, Sozialversicherungsbeiträge abgeführt, die Löhne kommen pünktlich, sie fühlen sich wertgeschätzt. In manchen polnischen Betrieben kann es unterschiedlich sein. Die deutschen Niederlassungen stehen unter einer öffentlichen Beobachtung und guter Leumund als deutsche Firma in Polen ist ja besonders wichtig. An Orten, wo Personal knapp ist, insbesondere bei Schichtbetrieben, lässt man sich auch was einfallen. So holen sie ihre Mitarbeiter in Bussen von zu Hause ab – denn die Betriebe liegen oft außerhalb und längst nicht jeder kann sich ein Auto leisten. 

Mehr zum Thema: Das Urteil des politisch gesteuerten Verfassungstribunals von Polen ist eine Kampfansage an die EU. Dem britischen Beispiel wird das Land dennoch nicht folgen – das kann es sich nicht erlauben. Ein Kommentar.

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